Eines spürt man in der Simultania Liechtenstein sofort, wenn sich die Tür öffnet: Menschlichkeit. Reine Beschäftigungstherapie und blindes Arbeiten nach pädagogischen Richtlinien sind hier fehl am Platz. Die Mitarbeiter*innen haben die Mission der Simultania verinnerlicht, jede*r Einzelne trägt sie auch nach einem Arbeitstag noch mit hinaus.
Dass die Simultania ein Ort der Begegnungen ist, machte sich beim runden Tisch mit 7 Team-Mitgliedern bemerkbar: Oft läutet es an der Tür, Besucher betreten die helle Aula des Wohnhauses, treffen sich für die Besprechung wichtiger Themen oder kommen einfach so auf einen Kaffee vorbei. Viele kennen die Bewohner*innen bereits, es wird gescherzt, getratscht und gelacht. Man merkt: Es sind nicht nur leere Floskeln, wenn die Mitarbeiter*innen sagen, man darf hier sein, wie man ist. Dazu gehört die gegenseitige Akzeptanz, die Offenheit gegenüber Neuem und die Freiheit, selbstbestimmt zu leben. Ein Gespräch über alles, was die Simultania Liechtenstein ausmacht.
Zum Aufwärmen eine Frage in die Runde: Was bedeutet die Simultania für euch?
Gorana: Vielfalt.
Bernd: Und Freiheit in der Arbeit.
Gorana: Genau. Wir können viel selbst bestimmen, es gibt kein starres Konzept.
Anna: Ich war zuvor in anderen Tagesstätten, in denen Richtlinien und starre pädagogische Prinzipen wichtig waren. Als ich nach Judenburg zog und die SIM betrat, war es anders. Hier steht das Herz im Mittelpunkt. Die professionelle Arbeit ist natürlich wichtig, aber man hat sofort gemerkt, dass „Echt-sein“ gefragt ist, du musst hier keine Show abziehen. Hier darfst du Mensch sein.
Gorana: Genau, ich bin ich. Die Arbeit ist sicher wichtig, aber man darf sie auch mit Spaß verbinden, man darf man selbst sein. Das schafft eine besondere Energie und die spürt man, wenn man reingeht.
Tamara: Hier kommen alle zusammen, wie sie sind, ob Kundinnen und Kunden oder Mitarbeiter*innen. In anderen Einrichtungen wird oft das Essenzielle, das unsere Arbeit ausmacht, vergessen: Dass wir alle Menschen sind. Jede:r mit seinen Stärken und Schwächen. Genau das macht unsere Vielfalt aus.
Welche Rolle spielt Selbstbestimmung - für euch in eurer Arbeit und auch für die Kundinnen und Kunden?
Gorana: Selbstständigkeit ist wichtig und steht bei uns allen im Fokus. Man merkt auch, dass das Selbstbewusstsein der Kundinnen und Kunden steigt, wenn sie eigene Entscheidungen treffen.
Tamara: Wir ermöglichen Selbstbestimmung, wo immer es geht. Wir gehen auf Bedürfnisse ein, nehmen Wünsche ernst und hören zu.
Anna: Viele kennen das ja noch nicht. Wir haben Kundinnen und Kunden, die nicht sprechen können und dadurch noch nie richtig gehört wurden. Da fangen wir damit an, ihnen einfach nur die Wahl zwischen zwei Joghurts zu geben. Und man merkt, da passiert etwas. Sie lernen „Mein Blick hat eine Wirksamkeit, ich kann selbst bestimmen.“ Da blühen sie auf, da fängt die Charakterbildung an, die für uns so grundlegend ist.
Sabrina: Selbstständigkeit bedeutet für mich, dass die Kundinnen und Kunden ihren Alltag weitgehend eigenständig bewältigen können. Natürlich mit meiner Unterstützung aber das heißt nicht, dass ich jeden Schritt überwache. Für mich ist es ein guter Arbeitstag, wenn ich mich zurücknehmen kann.
Bernd: Genau. Wenn ich weniger eingreifen muss, bedeutet das für mich, dass meine Arbeit passt, weil die Kund:innen selbstständig durch den Tag gehen.
Je weniger ich eingreifen muss, desto besser ist meine Arbeit.
Hat Selbstbestimmung Grenzen?
Sabrina: Ja. Es gibt Situationen, da kann man nicht einfach zuschauen und muss eingreifen.
Tamara: Man muss eben das Mittelmaß finden.
Gorana: Selbstbestimmung heißt nicht, alles zuzulassen. Wir begleiten unsere Kundinnen und Kunden im Leben, erleichtern ihnen Entscheidungen, indem wir informieren und Möglichkeiten bieten, aber es gibt gewisse Rahmenbedingungen, an die wir uns halten müssen.
Ingrid: Wir schaffen die Struktur, an denen sich die Kundinnen und Kunden orientieren können. Und da gibt es Regeln – für alle, auch für das Personal. Ich kann ja auch nicht alles frei entscheiden, und muss mich an meine Dienstzeiten, meine Aufgaben, eben an meinen Rahmen halten. In der Gruppe gibt es genauso Regeln, die einzuhalten sind.
Bernd: Jede*r muss sich bewusst sein: Mein Tun hat Konsequenzen. Das vermitteln wir.
Ihr habt auch Kundinnen und Kunden, die sich schwer mitteilen können. Wie findet man das richtige Maß zwischen Selbstständigkeit und Unterstützung?
Ingrid: Einen gewissen Rahmen hat man ja, durch Biographiearbeit, Empfehlungen von zuhause oder von Lehrer:innen. Dieser Austausch ist wichtig, alles andere erreicht man durch Versuch und Wirkung.
Wie wichtig ist es, Fehler zu erlauben?
Ute: Das musste ich selbst erst lernen. Zu Beginn hätte ich sicher noch öfter eingegriffen, mittlerweile weiß ich, dass es ok ist, wenn das Essen anbrennt oder wenn Kundinnen und Kunden mal länger für etwas brauchen. Das macht auch mit einem selbst etwas.
Tamara: Für uns alle ist es ein Lernprozess. Es ist wichtig, Fehler zuzulassen und das wird bei uns auch so gelebt.
Gorana: Fehler sind menschlich und wir alle hier sind Menschen. Da gibt es keinen Unterschied zwischen uns Betreuer:innen und den Kund:innen.
Gorana hat es angesprochen, es gibt keinen Unterschied und trotzdem hat jede Person andere Bedürfnisse. Wie geht man mit dieser Vielfalt um?
Gorana: Man kann so viel Neues mit unseren Kundinnen und Kunden ausprobieren, Dinge die man ihnen womöglich gar nicht zugemutet hätte. Viele sehen nur die Behinderung, aber dahinter steckt so viel mehr.
Ingrid: Die Behinderung steht für viele im Vordergrund, die nicht mit Menschen mit Beeinträchtigungen zu tun haben. Die sehen diese und haben oft Mitleid.
Gorana: Das gilt auch für die Eltern. Die halten viel zu oft die schützende Hand über ihre Kinder, dabei ist das nicht notwendig. Das fängt schon beim Essen an, wir hören so oft: „Die Mama hat gesagt, ich mag das nicht.“ Erst letztens war das bei einem Kunden in unserer Gruppe der Fall. Als er es dann doch probiert hat, hat er gesagt: „Jetzt muss ich der Mama sagen, dass ich das zuhause auch mal essen möchte!".
Bernd: Genau, viel wird von vornherein abgewiesen. Wenn ich mit einem Kunden essen gehe und er möchte was Scharfes bestellen, lasse ich ihn das probieren. Ich kann nicht sagen „Das magst du nicht, das ist dir zu scharf.“ Woher sollte ich wissen, dass es zu scharf für ihn ist, wenn er es nie probiert hat?
Tamara: Ich denke, es ist ganz wichtig, dass wir ihnen bei uns Möglichkeiten bieten, neue Erfahrungen zu sammeln.
Wie schwer ist der Prozess vom Loslösen von zuhause bis zur Selbstständigkeit in der SIM?
Ute: In der Tagesstätte hat man den Wechsel zwischen hier und dem Zuhause der Kundinnen und Kunden viel stärker, im Wohnhaus ist das anders. Wenn Menschen von zu Hause ausziehen und hierher kommen erleben sie zum ersten Mal, dass sie auf eigenen Beinen stehen können. Das Umfeld macht die Menschen eigenständiger, sie dürfen sich komplett neu erfahren. Im Wohnhaus haben sie erstmals ein Zimmer für sich allein, sie müssen nicht essen, wenn alle essen, sie dürfen anziehen, was sie wollen.
Tamara: Natürlich ist der Loslösungsprozess ist auch vonseiten der Eltern nicht einfach, was total verständlich ist.
Bernd: Das Loslassen ist hart, weil sich Eltern Sorgen machen. Aber man muss auch mal Fehler zulassen, dadurch lernen Kinder. Wenn das Loslassen von den Eltern aus nicht kommt, ist es schwierig. Und selbst wenn Eltern dazu bereit sind, fehlen oft die Möglichkeiten. Weil das Angebot sehr begrenzt ist und die betreuten Wohnplätze schnell vergriffen.
Viel passiert also schon zuhause. Denkt ihr, dass die Gesellschaft allgemein toleranter sein könnte?
Bernd (lacht): Jo.
Tamara: Absolut. Obwohl man glaubt, es müsste mittlerweile anders sein, stößt man so oft auf Blockaden. Wie vorhin gesagt, die Leute sehen oft nur die Behinderung. Aber wo ist der Mensch?
Die Menschen hier lernen: Mein Blick hat Wirksamkeit. Und da fängt die Charakterbildung an.
Was braucht es, damit die Gesellschaft toleranter wird?
Ingrid: Die richtige Erziehung. Von klein auf sollte vermittelt werden, dass Menschen mit Behinderung genau so sind wie du und ich. Die Kinder bei uns (Anm.: Im SIM-Gebäude gibt es auch eine Kinderkrippe) tun sich da sicher leichter, da der Kontakt mit den Menschen in der Simultania immer gegeben ist.
Ute: Dieser Kontakt ist für Andere leider nicht immer verfügbar. Es ist etwas komplett anderes, wenn man unsere Kundinnen und Kunden hier in der Simultania erlebt, als sie flüchtig beim Einkaufen zu treffen. Es braucht schon mehr Erfahrung, um zu merken, dass sie nicht anders als alle anderen Menschen sind.
Anna: Es fehlt auch viel an Aufklärung und Information. Viele sind unsicher, wie man mit besonderen Bedürfnissen umgehen soll.
Sabrina: Weil Menschen mit Behinderung gar nicht wirklich sichtbar sind. Wenn wir inklusiver wären, hätte man auch mehr Schnittpunkte.
Ute: Genau. Der perfekte Zustand wäre, wenn es unser Berufsbild nicht brauchen würde. Es ist eigentlich falsch, dass es ein eigenes Wohnhaus, eine eigene Tagesstätte gibt. Das Richtige wäre eine Welt, in der unsere Kundinnen und Kunden in einem normalen Wohnhaus leben, einer normalen Arbeit nachgehen könnten. Mit professioneller Unterstützung natürlich…
Gorana: …und Bezahlung!
Ingrid: Derzeit nimmt ja kaum ein Betrieb freiwillig Menschen mit Behinderung auf. Es ist für sie unmöglich „normal“ zu arbeiten.
Sabrina: Da sind wir weit weg von Integration. Auch wenn das oft so schön betont wird - wo bitte sind Menschen mit Behinderung integriert? In unserer Welt wird alles schön aufgeteilt. Erste Klasse, zweite Klasse, VIP und so weiter. Wir werden alle klassifiziert.
Ute: In vielen Ländern funktioniert das schon besser. Ich war in Irland und mir ist aufgefallen, dass eine Frau mit Down-Syndrom am Straßenrand steht und auf ein Taxi wartet. Wie cool ist das? Bei uns würde man sofort fragen, ob man helfen kann, weil man davon ausgeht, dass sie es alleine nicht schafft.
Gorana: Weil sie gleich abgestempelt werden würde.
Das heißt wenn wir nicht so sehr klassifizieren würden, würde man die Unterschiede gar nicht wahrnehmen - und es gäbe mehr Toleranz.
Gorana: Unsere Kunden leben es eigentlich vor: Wir haben zum Beispiel einen, der gerne redet und oftmals lauter ist. Eine andere Kundin kann damit nicht so gut umgehen. Aber sie kommen zurecht – entweder geht sie oder er geht aus dem Raum, aber sie tolerieren sich. Es kommt dadurch nicht zu großen Reibereien.
Bernd: Es gibt natürlich schon auch Streit, wie bei uns allen. Wir müssen ja auch nicht immer mit jedem auskommen. Und wenn jemand grantig oder genervt ist, darf er es auch sagen. Solange es im Rahmen bleibt ist das ja ok.
Hat die Toleranz auch mal Grenzen?
Ingrid: Ja und zwar dann, wenn einer vor dem Anderen Angst hat. Oder wenn eigene Schmerzen, physisch oder psychisch, beginnen.
Tamara: Dann ist es unsere Aufgabe, sensibel zu reagieren. Und einzuschreiten, wenn es notwendig ist – auch wenn es uns selbst betrifft.
Ingrid: Selbstschutz vor Fremdschutz gilt immer. Wenn es mir schlecht geht, kann ich meine Kundinnen und Kunden auch nicht richtig betreuen. Man hat als Mensch auch nicht unendliche Ressourcen, man kann nicht alles aushalten. Bei uns in der Gruppe haben wir ausgemacht: Wenn jemand überlastet ist, kann man sich aus der Situation rausnehmen und beispielsweise eine Runde spazieren gehen. Wir haben da ein Ventil geschaffen.
Bernd: Ich bin auch froh, dass wir nichts produzieren, sonst hätten wir immer Druck und die pädagogische Arbeit müsste hintenangestellt werden. Wir können zu unseren Kundinnen und Kunden sagen: Ich merke du brauchst eine Auszeit, nehmen wir uns die und verbringen den Tag einfach woanders, vielleicht auch nur zu zweit.
Gorana: Wir leben das hier auch, wir schauen aufeinander.
Das spürt man.
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