Selbstbestimmung begleitet uns ein Leben lang. Als Kind erlernen wir sie, im Alter möchten wir sie solange wie möglich bewahren. Was passiert in der Jugend?
Sehr, sehr viel. Einerseits die Pubertät als starke hormonelle Entwicklung. Gleichzeitig verändern sich die Denkprozesse, es kommen neue Interessen hinzu. Entscheidungen stehen an, wie das Herausfinden des Schul- oder Berufsweges. Es werden wichtige Erfahrungen gemacht, was Liebe betrifft. Viele Jugendliche am Land machen in dieser Zeit einen Mopedführerschein, der sie selbstbestimmter werden lässt. Zuhause wird viel mit den Eltern ausverhandelt – vom Ausgehen über Verhaltensregeln bis zur Mitarbeit im Haushalt. Und gerade der Freundeskreis ist enorm wichtig - die Möglichkeit mit Gleichaltrigen in Kontakt zu treten, der Austausch, die Behauptung Anderen gegenüber.
Wie wichtig ist es, dass Jugendliche in dieser Zeit Erfahrungen und Fehler machen?
Sehr – vor allem ist es wichtig, dass sie viel ausprobieren dürfen, das ist leider nicht selbstverständlich. Manchen Eltern fällt es schwer, die Kontrolle abzugeben, dadurch engen sie ihre Kinder ein. Andere unterstützen zu wenig oder sind überfordert. Ein angemessener Umgang und ein „gutes Gespür“ sind der Schlüssel, damit sich die Kinder zu eigenständigen Persönlichkeiten entwickeln können. Das heißt keinesfalls, dass man als Elternteil perfekt sein muss. Ganz im Gegenteil: Kritikfähigkeit, Neugierde und Interesse der Eltern sind viel wichtiger.
Wie fördert Streetwork die Selbstständigkeit bei Jugendlichen?
Wir bieten unterschiedliche Workshops an Schulen, zu Themen wie Sucht, Mobbing oder Empowerment, um die Jugendlichen zu informieren. Viel passiert auch in Einzelberatungen, in denen wir Jugendliche über ihre Rechte und Pflichten aufklären, sie zum Experimentieren anregen und gemeinsam mit ihnen über Erfahrungen reflektieren. Gerade in dieser Reflexion ist der Austausch mit Erwachsenen, die helfen, das Erlebte einzuordnen, wichtig.
Kommt ihr für diese Einzelberatungen auf die Jugendlichen zu oder umgekehrt?
Beides. Wir gehen auch von selbst auf Jugendliche zu, bei denen wir merken, dass sie besonders risikobereit sind oder stark unterdrückt werden.
Kritikfähigkeit, Neugierde und Interesse der Eltern sind wichtiger als eine perfekte Erziehung.
Und was passiert in der Gruppe?
Im Gruppensetting machen wir viele Projekte zum Reflektieren und Ausprobieren. Zum Beispiel haben wir die Rauschbrille, mit der ein Alkoholrausch simuliert wird oder meine Kollegin Isa macht viel im Bereich Erlebnispädagogik und geht mit den Jugendlichen in den Wald. Außerdem erleben wir gerade beim Podcast-Projekt, wie gerne die Jugendlichen selbst Fragen stellen und über die Gesprächsthemen entscheiden.
Das heißt, die Jugendlichen dürfen sehr viel mitbestimmen?
Ja, der Grad der Selbstbestimmung bei unseren Jugendprojekten ist hoch. Ein wichtiges Element ist dennoch, dass wir regulierend wirken – das heißt wir lassen die Jugendlichen nicht alleine, sondern bieten bedarfsorientiert Unterstützung an, wo sie gebraucht wird. So ist das auch in der Arbeit mit Einzelnen: Manche brauchen mehr Unterstützung, um selbstbestimmt zu leben, andere weniger. Da muss man auf das Individuum schauen.
Was macht es mit Jugendlichen, wenn sie plötzlich mehr mitbestimmen dürfen - beispielsweise im Bezug auf das Wahlrecht ab 16. Fühlen sie sich dann auch selbstbestimmter?
Auf jeden Fall. Gerade bei politischen Themen könnte noch mehr an die Jugend gedacht werden. Wir als Streetwork bieten unsere Unterstützung an, damit Jugendlicher besser integriert und informiert werden. Das reicht von der Instagram-Seite einer Gemeinde bis hin zum Jugendgemeinderat. Wenn Jugendagenden mitgedacht werden und sie aktiv mitgestalten dürfen erzeugt das bei ihnen ja auch eine Art „Heimatgefühl“, was letztendlich den Gemeinden zugutekommt.
Du bist ja auch Psychotherapeut. Welche Methoden gibt es allgemein, um an der Selbstbestimmung zu arbeiten?
Ich arbeite nach einer Therapiemethode, die sich stark an der Entwicklungspsychologie orientiert. Wenn ich mit meinen Patient:innen an ihrer Selbstbestimmung arbeite, starte ich mit der Wahrnehmung. Das beinhaltet die Selbstwahrnehmung von Kopf bis Fuß und die Fremdwahrnehmung. Wir üben die Fähigkeit mit uns selbst und anderen zu kommunizieren, die Fähigkeit zu steuern und zu regulieren. Das lernt man mit einem Objekt, wie einem Stab beispielsweise, indem man genau beobachtet, wie biegsam oder fest der Stab ist, wie viel Gewicht man darauf verlagern kann. Die Patient:innen probieren sich dann aus, reflektieren im Nachhinein und kommen so darauf, dass man diese Übung für die eigenen Probleme und das eigene Leben auslegen kann. Meiner Meinung nach hat Selbstbestimmung viel mit Bewusstsein und Erfahrung zu tun. Das kann man in Therapien verbessern.
Wie kann man Selbstbestimmung aus entwicklungspsychologischer Sicht betrachten?
Schon als Kleinkind entwickeln sich Abhängigkeiten – man braucht eine andere Person zur Unterstützung. Die Mutter zeigt dem Kind die Brust und das Kind wendet den Saugreflex an. Durch die Wiederholung dieses Schemas erlernt das Kind, nicht nur sich zu ernähren, sondern auch auf sich aufmerksam zu machen, wenn es hungrig ist. Dabei ist es wichtig, dass es ein verlässliches Gegenüber gibt, das richtig reagiert und die Selbstbestimmung des Kindes fördert. Ist das nicht der Fall – wenn das Kind immer wieder das Falsche bekommt – wird es Probleme haben, Selbstbestimmung zu erlernen. Das ist auch bei Jugendlichen der Fall: Wenn sie rebellieren, kann der Grund dafür sein, dass sie zuhause eingeengt werden – und eben nicht die Freiheit erhalten, die für diese Lebensphase so wichtig ist.
Wenn Jugendliche rebellieren, kann der Grund dafür sein, dass sie nicht die Freiheit erhalten, die für diese Lebensphase so wichtig ist.
Das heißt, es geht viel um Kommunikation: Sich richtig auszudrücken und ein Gegenüber zu haben, das versteht was man möchte.
Genau. Zu uns kommen auch viele Jugendliche mit ihren Eltern für eine Art Mediation. Wir arbeiten dann als Vermittlung, stellen die Bedürfnisse der Jugendlichen dar. Dabei erkennen wir auch, wenn es zuhause größere Probleme gibt, die ungesund für die Kinder und Jugendlichen sein können – wenn es erforderlich ist, wird auch das Jugendamt hinzugezogen.
Also ob man als Erwachsene:r selbstbestimmt ist, zeichnet sich schon in der Erziehung ab.
Ja, aber man kann natürlich immer daran arbeiten. Selbstbestimmung muss man als Mensch schrittweise erlernen und je nach Altersphase wird Unterstützung gebraucht. Eltern, Lehrer:innen und das ganze soziale Umfeld tragen dazu bei. Das Hilfswerk bietet gute Angebote, um in der Jugendarbeit oder in professionellen Therapien daran zu arbeiten. Beispielsweise nach der Theorie des Psychoanalytikers Winnicott, der in diesem Zusammenhang vom falschen Selbst spricht. Darunter versteht man die Anpassung des Kinders an fehlerhafte Erziehung: Das Kind passt sich selbstverständlich an die Erwartungen und Forderungen der Umwelt an. Sind diese zu extrem, entsteht eine verschobene Persönlichkeit – ein sogenanntes „falsches Selbst“. Daraus kann sich in der Folge sogar eine psychische Störung entwickeln.
Aber kann man überhaupt erziehen, ohne in eine gewisse Richtung zu lenken?
Nein, denn unser Elternhaus und unser Kulturkreis prägen uns. In der Erziehung gilt es, die Selbstbestimmung zu fördern und meiner Meinung nach, sollte dies durch „wohlwollendes Assistieren“ passieren. Das heißt als Erziehende:r sollte man Möglichkeiten anbieten, aber das Kind selbst Erfahrungen sammeln lassen – um diese danach gemeinsam zu reflektieren. Was das Kind dadurch lernt, ist Differenzierung.
Was versteht man unter Differenzierung in dem Zusammenhang?
Ein einfaches Beispiel für Differenzierung ist die rot-grüne Ampel: Kinder erlernen erst die Fähigkeit, diese Farben und ihre Bedeutung zu unterscheiden. Diese Differenzierungsfähigkeit, das Erkennen und Benennen von Unterschieden, muss geübt werden, erst wenn man sie beherrscht kann selbstständig gehandelt werden. Jugendliche probieren sie im Kleinen und im Großen immer wieder aus: Sie suchen nach der passenden Ausbildung, sie entwickeln eine Haltung zu Nikotin und Alkohol, sie erkunden ihre Sexualität und vieles mehr.
Kann Selbstbestimmung auch überfordern oder negative Auswirkungen haben?
Ja, wir leben in einer Gesellschaft des materiellen Überflusses, daher muss jeder Mensch täglich sehr viele Entscheidungen treffen. Selbstbestimmung bedeutet nicht nur zu fordern und sich durchzusetzen, sondern auch Kompromisse einzugehen und Dankbarkeit empfinden zu können. In unserem Job als Streetworker:innen sehen wir viele Jugendliche, die sich mit Selbstbestimmung schwer tun. Das sind Jugendliche mit perfektionistischen Zwängen, die Angst haben, etwas falsch zu machen, Jugendliche mit stark schädigendem Suchtmittelkonsum oder Jugendliche die ihre Gefühle nicht regulieren können und unter Depressionen leiden. Unser Job ist es, vor allem diese Jugendlichen aufzusuchen, Lösungen für ihre Probleme zu finden und somit ihre Entwicklung zu fördern.
Zum Schluss noch einmal zusammengefasst: Was ist das Ziel von Streetwork im Hinblick auf Selbstbestimmung?
Es ist unser Credo, Jugendliche zur Selbstbestimmung zu befähigen. Da geht es um die allgemeinen Entwicklungsaufgaben wie Schule, Freundschaften, Sexualität oder ähnliches. Wir sehen dabei natürlich, wenn etwas im Weg steht – wie der Umgang zuhause, Depressionen oder sonstige Probleme - und gehen darauf ein. Auf den Punkt gebracht, geht es uns aber schlicht darum, die Jugendlichen bei ihrem Schritt in die nächste Ebene zu unterstützen: Dem Erwachsenenleben.
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