Mag. Martina Genser-Medlitsch ist Klinische Psychologin und Gesundheitspsychologin und leitet innerhalb des Hilfswerk Österreich jenen Geschäftsbereich der KEEP BALANCE anbietet. Was ist KEEP BALANCE? KEEP BALANCE ist ein Employee Assistance Program (EAP), das auf jahrzehntelanger Erfahrung und umfassender Fachkompetenz des Hilfswerks als praktischer Dienstleister basiert.
Liebe Frau Genser-Medlitsch, das Hilfswerk Steiermark bietet seit heuer seinen Mitarbeiter*innen KEEP BALANCE an. Bitte beschreiben Sie kurz was KEEP BALANCE ist.
KEEP BALANCE ist ein professionelles Beratungsservice, welches von Unternehmen zur Entlastung ihrer Mitarbeiter*innen in Anspruch genommen werden kann. Bei KEEP BALANCE hat man die Möglichkeit von erfahrenen Expertinnen und Experten aus den Fachbereichen der Psychologie, Psychotherapie, Pädagogik und Pflege in unterschiedlichen Formen beraten oder begleitet zu werden. Wichtig dabei ist: Alle Gespräche mit unseren Beraterinnen und Beratern unterliegen der absoluten Verschwiegenheitspflicht.
Was ist Ihre Rolle bei KEEP BALANCE?
Ich leite innerhalb des Hilfswerk Österreich jenen Geschäftsbereich, der KEEP BALANCE anbietet. Neben der fachlichen, organisatorischen und wirtschaftlichen Leitung halte ich auch Online-Vorträge und Workshops. Wichtig ist mir der kontinuierliche persönliche Kontakt mit den Menschen, die unser Angebot nutzen. Aus diesem Grund bin ich nach wie vor selbst in der Beratung sowie in (Team)Coachings und Kriseninterventionen tätig. Dies ist für mich unerlässlich, um KEEP BALANCE weiterzuentwickeln und die Qualität zu sichern.
Welche Erfahrungswerte haben Sie vonseiten der Unternehmen? Welche internen Verbesserungen konnten diese durch KEEP BALANCE erzielen?
Feedback bekommen wir meistens direkt von den Mitarbeiter:innen der Unternehmen oder den Personal-Verantwortlichen. Dabei lobt der Großteil die kurze Wartezeit, also die Möglichkeit, sehr rasch einen Termin zu bekommen, die professionelle Beratung und das Angebot an sich, da vielen Arbeitnehmer*innen klar ist, dass es keine Selbstverständlichkeit darstellt, wenn ein Unternehmen ein psychosoziales Beratungs- und Unterstützungsangebot kostenlos zur Verfügung stellt. Geschätzt werden auch die 100%ige Anonymität der Gespräche und die Option sich sowohl mit beruflichen als auch privaten Themen an KEEP BALANCE wenden zu können.
Was sind die Hauptgründe, aus denen sich jemand bei KEEP BALANCE meldet?
Sehr gemischt, hauptsächlich erreichen uns Fragen rund um die Herausforderungen am Arbeitsplatz sowie Stress, Probleme in der Partnerschaft und im privaten Umfeld, Fragen und Sorgen in der Betreuung und Erziehung von Kindern, Belastungen durch die Betreuung von Angehörigen und generell Themen bei denen es um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf geht. Aber auch allgemeine Sorgen oder Ängste, genauso wie individuelle Neuorientierung und eine prinzipielle Unterstützung in der persönlichen Reflexion werden angesprochen.
Viele wischen Sorgen oder Stress im Alltag gerne beiseite oder sagen „Anderen geht es schlechter“. Ab welchem Zeitpunkt sollte man sich eine Sorge doch genauer ansehen?
Als Sorge definiere ich, wenn einem ein Gedanke oder ein Thema während des Tages immer wieder durch den Kopf geht, auch während man mit anderen Dingen beschäftigt ist. Vor allem, wenn diese Sorge immer wieder ohne konkreten Auslöser präsent ist. Dazu gehören meist auch Kommentare im inneren Dialog, wie etwa: „Warum ist das Problem bzw. die Situation schon wieder so?“, „Wie kann das sein?“, „Wie soll ich das bloß schaffen?!“, „Wahrscheinlich gibt es heute wieder Streit.“ So in diese Richtung. Sorgen beginnen oft klein, doch je mehr wir darüber nachdenken und grübeln umso größer können sie werden.
Je nach Thema oder Ausgangslage kann so aus einer kleinen Unstimmigkeit, einer Befürchtung oder Ähnlichem ein handfestes Problem werden, das vielleicht unter anderen Umständen keines hätte werden müssen. Oft passiert es auch, dass wir belastende Themen beiseiteschieben, dadurch verschwinden sie aber meist nur temporär und es kann sein, dass sie Jahre später plötzlich wieder hervorkommen, das kann zum Beispiel bei nicht bewältigter Trauer der Fall sein. Ein wichtiger Punkt ist, dass wir unsere Gefühle wahrnehmen, benennen und ausdrücken. Wenn wir das nicht tun, können daraus Dynamiken entstehen, die unsere Kommunikation und Beziehung zu anderen blockieren und dann passiert es sehr leicht, dass aus scheinbaren Kleinigkeiten heftige Konflikte entstehen. Wenn man also merkt, dass einem wiederkehrende Sorgen, Fragen oder Grübeleien durch den Kopf kreisen, kann es sehr hilfreich sein, Beratung von außen zu nutzen. Denn: Ein Profi stellt Fragen, die man sich selber auf diese Art und Weise vielleicht nicht stellen würde oder noch nicht gestellt hat.
Warum kann es schwerfallen, Hilfe von außen anzunehmen?
Viele von uns sind schnell dazu bereit, sich selbst zu bewerten und selten ist das positiv, oft tun wir das in negativer Form. Das kann in die Richtung gehen: „Ich bin wahrscheinlich zu schnell beleidigt oder eine Mimose, weil ich mir dieses oder jenes zu Herzen nehme.“ bzw. „Mir geht´s ja eh gut, es ist übertrieben, wenn ich mich nun aufrege oder jemanden zu Rate ziehe. Andere haben es nötiger.“ Auch aus dem Umfeld können Sätze erfolgen wie: „Du hast doch alles, warum bist du dann so schlecht drauf?“ oder „In deinem Leben ist alles super, wieso bist du dann belastet?“ Unsere Gefühle sind jedoch sehr individuell und sollten nicht bagatellisiert oder weggeschoben werden, man soll und darf hier achtsam mit sich selbst umgehen. Oft bekomme ich die Rückmeldung, dass viele Menschen, die KEEP BALANCE genutzt haben, sich wünschen, dass sie uns schon früher in Anspruch genommen hätten. Menschen denken oft, dass sie „das schon schaffen“ und dass sie „das schon auf die Reihe bekommen“. Häufig hat das auch mit unserer eigenen Erwartung zu tun, alles selbst bewältigen zu müssen, da wir andernfalls als schwach betrachtet werden könnten. Jedoch ist genau das nicht der Fall, denn es ist immer ein Zeichen von Stärke und Kompetenz, sich Unterstützung zu holen, das möchte ich gerne unterstreichen. Solche Angebote zu nützen, bietet immer Chancen.
Gibt es geschlechterspezifische Unterschiede im Umgang mit Sorgen?
Frauen sind oftmals neugieriger, sie hören von einem Angebot wie etwa KEEP BALANCE und wenn sie dazu Informationen erhalten haben, sind sie schneller bereit, es auch auszuprobieren oder zu nutzen. Männer nehmen oft erst nach einem direkten Gespräch mit Kolleginnen und Kollegen oder Vorgesetzten, in dem sie deren Erfahrungen mit Unterstützungsangeboten hören, Kontakt mit uns auf. Generell hängt es auf jeden Fall stark davon ab, auf welche Art und Weise solche Beratungsmöglichkeiten innerhalb der Unternehmen kommuniziert werden und inwieweit deren Inanspruchnahme als selbstverständlich und begrüßenswert vermittelt wird.
Es ist immer ein Zeichen von Stärke und Kompetenz, sich Unterstützung zu holen.
Eine*n Therapeutin*Therapeuten bzw. Psychologin*Psychologen aufzusuchen ist in manchen Ländern Teil der Selbstfürsorge oder Psychohygiene. Wie erleben Sie das bei uns in Österreich?
In einigen Ländern gehört das schon direkt zum „Lifestyle“ dazu, ja, in anderen wiederum ist es völlige Normalität, dort ist es ein normaler Termin, wie ein Besuch beim Zahnarzt. Ich habe bei KEEP BALANCE gerade in den Anfangszeiten erlebt, wenn ich etwa bei Unternehmen zu Gast war, um das Programm vorzustellen, dass die Reaktionen häufig in die Richtung gingen: „So etwas brauchen wir nicht, die Leute sind ja nicht „verrückt“ bei uns.“ Es gab aber zum Glück schon zu Beginn einige Personal-Abteilungen und Geschäftsführungen, die diesem Thema sehr offen gegenüberstanden. Das Spannende für mich ist, dass sich das gerade in den letzten 2 bis 3 Jahren sehr gewandelt hat. Die ursprünglichen Einwände kommen heute in dieser Form nicht mehr vor, so nehmen z. B. psychische Belastungen am Arbeitsplatz mittlerweile eine andere Relevanz ein. Und durch den niederschwelligen Zugang, den KEEP BALANCE bietet, erleben Mitarbeiter*innen von Unternehmen die Beratungssituation als sehr positiv und oft auch anders als erwartet: als ganz normales Gespräch mit einem anderen Menschen, der mir zuhört und andere Fragen stellt, als mein bekanntes soziales Umfeld. Dadurch eröffnen sich neue Perspektiven.
Wenn ich dennoch Hemmungen habe, mir externe Beratung zu holen und mich gerade Sorgen beschäftigen - gibt es kleine Soforthilfe-Methoden, mit denen ich mich selbst stärken kann?
Vorausschicken muss ich, dass es nicht einen Tipp für alles gibt und dass nicht jeder Ansatz für jede*n passt. Man muss daher auch ein bisschen den Mut haben, einen Vorschlag, den man hört, für einen selbst passend abzuwandeln. Das Wichtigste ist, dass ich aus dem Sorgenwälzen oder dem Zustand des Dauergrübelns herausfinde. Der erste Schritt kann sein, bewusst die eigene Körperhaltung zu verändern: Wenn man beispielsweise sehr gekrümmt dasitzt und nachdenkt, sollte man sich aktiv aufrichten, um damit eine Unterbrechung des aktiven Grübelns herbeizuführen. Indem ich meine eigene Aufmerksamkeit auf meine Grübelhaltung lenke, wird mir schneller bewusst, dass ich nun dabei bin, in eine Phase des Gedankenwälzens einzutauchen.
Nachdenken findet stets im inneren Dialog statt, jeder Mensch führt im Durchschnitt 3.000 Selbstgespräche pro Tag, was ja nicht wenig ist. Der zweite Schritt wäre daher meine Gedanken zu externalisieren, das bedeutet, sie nach außen zu bringen. Die Herangehensweise ist dabei unterschiedlich: Manche schreiben gerne, hier kann es hilfreich sein, das, was uns innerlich beschäftigt, wortwörtlich zu Papier zu bringen. Das ist eine Entlastung für unser Gehirn, da wir die Sorge nun an einem anderen Ort festgehalten und deponiert haben. Eine weitere Methode ist das Verbalisieren der Grübelinhalte. Sagen Sie laut und deutlich Ihre Gedanken und Gefühle und benennen Sie diese auch, wie etwa: „Ja ich habe Sorgen, weil …“ oder „Ich habe gerade eine Stresssituation, weil …“. Verwenden Sie dabei jedoch bewusst die Formulierung „Ich habe gerade eine Wut“ statt „Ich bin wütend.“, denn Sie haben vielleicht gerade Wut, Sie sind jedoch nicht die Wut. Das ist ein wichtiger Unterschied und schafft eine mentale Distanz zu dem Thema, mit dem Sie gerade emotional beschäftigt sind. Viele Menschen verwenden auch gezielte Methoden, um sich vom Gedankenkarussell abzulenken, wie etwa das Radio laut aufzudrehen oder eine handwerkliche Tätigkeit zu beginnen, die in dem Moment ihre Konzentration fordert. Oder man kann zum Beispiel einfach mal aufstehen und im Stand einige Minuten ganz schnell zu laufen beginnen, dabei auch ruhig ordentlich trampeln. Sie werden merken, dass Sie durch die Anstrengung meistens auch wieder tief durchatmen und das hat den Effekt, dass man den durch das Grübeln angestauten Stress abreagieren kann. Egal in welcher Form man die Sorgen nach außen bringt, es wirkt sich unmittelbar immer entlastend aus.
Gerade die sozialen Netzwerke gehen über vor gut gemeinten Selbstoptimierungstipps. Angefangen bei Morgenritualen bis hin zu Ernährung und Trainingsplänen oder dem mittlerweile überstrapazierten Begriff des korrekten Mindsets. Dieses scheinbar perfekte, durchorganisierte Leben der anderen, welches wir online sehen, kann einen wahnsinnigen Druck erzeugen. Wie kann man damit umgehen?
Das Thema ist natürlich vielschichtig. Man kann sich zunächst konkret die eigene Nutzungsdauer der verschiedenen Kanäle ansehen und diese dokumentieren. Stellen Sie diese Zeit jener gegenüber, die Sie mit Dingen verbringen wie: mit Freunden spazieren gehen, sich mit jemandem treffen oder in der Sie ein Hobby ausführen, welches Sie erfüllt. Idealerweise sollte die offline Zeit natürlich die online Zeit überwiegen. Radikalkuren funktionieren (wie bei Gewichtsreduktionen) auch im Online-Kontext nicht so gut. Stattdessen teilen Sie sich bestimmte Zeitpunkte für die Nutzung von Online-Medien ein, zum Beispiel in der Mittagspause 15 Minuten oder am Nachmittag beim nach Hause kommen 15 Minuten. Das bewusste Einteilen kann im Nutzerverhalten schon einiges verändern. Wichtig ist außerdem: Lassen Sie sich nicht unter Druck setzen oder erliegen Sie nicht der Täuschung, dass andere die ultimative Glücksformel haben oder die ultimative Wahrheit besitzen. Denn das ist nicht unsere Lebensrealität. Als Menschen sind wir mit den unterschiedlichsten Gefühlen konfrontiert. Es entspricht nicht unserem Verhaltens-Repertoire immer nur gescheit, superglücklich, jederzeit effizient oder gelassen zu sein.
Wie kann man Menschen darin bestärken, Beratungsangebote wie KEEP BALANCE aktiv zu nützen?
Speziell bei KEEP BALANCE ist die 100%ige Anonymität ein großer Vorteil, man muss am Telefon zum Beispiel seinen Namen gar nicht sagen, wenn man das nicht möchte. Stellen Sie sich die Beratung wie eine Kugel vor: Sie haben die Möglichkeit, diese einfach für sich selbst zu nutzen, zu betreten und – was innerhalb der Kugel passiert bleibt auch dort, niemand außerhalb der Kugel weiß um den Inhalt des darin stattgefundenen Gespräches. Manche Menschen haben auch die Befürchtung, dass sie über Gefühle nicht gut reden können oder sie denken, dass ihre Frage, ihr Anliegen „dumm“ oder „komisch“ sei. Den Rückmeldungen zufolge ist die lockere und sichere Gesprächsatmosphäre mit einem Profi dann sehr hilfreich. Vergleichen Sie es zum Beispiel mit dem online Angebot einer Versicherung. Wenn Sie dort mit einem Formular nicht zurechtkommen, würden Sie nie zögern, sofort nachzufragen. Genauso verhält es sich mit der Beratungsleistung. Es ist ein Zeichen von Selbstbewusstsein sowie seelischer Stärke, wenn Sie erkennen können, dass Sie bei einer Frage, einem Problem oder einer Sorge wortwörtlich "anstehen".
Viele Menschen haben die Befürchtung, dass sie sich in einer Beratung psychisch entblößen könnten, das Gegenteil ist der Fall: Sie können nichts verlieren, jedoch viel gewinnen. Es kann ein wunderschönes Gefühl sein, sich jemandem anzuvertrauen und dabei seine Fähigkeiten und Kompetenzen zu entdecken oder bestätigt zu bekommen. Aus meiner Perspektive kann ich berichten, dass ich durch meinen Beruf erfahre, wie viele tolle, grandiose und bewundernswerte Menschen es auf dieser Welt gibt. Diese hätte ich nie kennengelernt, wenn ich sie nicht beraten hätte dürfen.
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