Eisenstadt 1949. Eine schwarzgekleidete junge Frau mit beachtlichem Hüftumfang und Flechtfrisur läuft resolut die Stufen der Musikschule empor, um noch rechtzeitig zur ihrer Gesangsstunde zu gelangen. Vielleicht hat es gerade angefangen zu regnen und sie wischt sich ärgerlich einen Tropfen von der Nase und richtet sich das Haar, als sie den Eingang erreicht. Vielleicht hat sich dieser Tag aber auch ganz anders zugetragen. Fakt ist, ich weiß es nicht, denn ich kann meine Oma nicht mehr danach fragen. Die Demenz hat der einst stattlichen, beeindruckenden und großherzigen Matrone mit der Stimme einer Operndiva Stück für Stück etwas genommen – und mir damit ebenfalls.
Die kleine weißhaarige Dame, die mich, wenn ich sie besuche, freundlich anstrahlt und fragt: „Grüß Gott, sprechen Sie ungarisch?“ hat mit meiner omnipräsenten, wunderbaren Oma nur noch die schnurgerade Haltung und die spitzbübischen Augen gemein, die mich neugierig mustern, wenn ich ihr wie jedes Mal antworte: „Nein, Oma, du wolltest es mir beibringen aber meine Aussprache war zu schlecht.“ Sofort wird ihr Blick etwas trüber, sie driftet davon, hinein in ihre eigenen Gedanken. Die Muttersprache meiner Oma war, wie zu dieser Zeit im Burgenland üblich, ungarisch, auch das ist eine der Erinnerungen, die sie in perfektem Hochdeutsch oft wiederholt: „Wissen Sie, ich habe erst mit sieben Jahren Deutsch gelernt.“
Wenn ich bei ihr bin, kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, in welchem Jahr ihrer Erinnerungen sie sich zu diesem Zeitpunkt aufhält, sie spricht von früher und macht sich viele Sorgen. Seit ungefähr drei Jahren weiß sie nicht mehr, wer ich bin. Sie hat unsere Abenteuer vergessen und wie viel wir zusammen gelacht haben. Sie erinnert sich nicht daran, mich beim Schlafen in fünf Daunendecken eingewickelt zu haben, weil es in ihrem Haus keine Zentralheizung gab. Stattdessen nimmt sie bei meinen Besuchen, sobald ich Platz genommen habe, meine Hand und streichelt sie, ich streichle ihre. Meine warmherzige, dauernd kochende, Zöpfe flechtende, Kirschsaft kaufende, mit einem großartigen Humor gesegnete Oma. Sie strahlt mich an und sagt: „Deine Hände sind so wunderbar warm, meine sind immer so kalt.“ Ich lächle zurück.
Wenn ein Mensch, den man liebt, dement ist, verabschiedet man sich in Stücken. Jahr für Jahr, Erinnerung für Erinnerung, Umarmung für Umarmung. Dem Vergessenwerden liegt eine Unfassbarkeit zugrunde, die man als Angehörige nie gänzlich begreifen wird können.
Es kostet mich meine gesamte Selbstbeherrschung, nicht zu weinen. Ich frage mich, was sie wohl denkt, wer ich bin, wenn wir so nebeneinander sitzen, und habe ein schlechtes Gewissen, weil mein letzter Besuch schon so lange her ist. Doch es spielt keine Rolle, denn sie weiß in zwei Minuten nicht mehr, dass ich sie besucht habe. Nach einiger Zeit verabschiede ich mich und küsse meine Oma und umarme sie und sage ihr, wie lieb ich sie hab. Ihre Augen leuchten, sie drückt meine Hand und sagt laut: „Danke, dankeschön.“ Wenn ich im Treppenhaus angekommen bin, brauche ich eine Minute, die Tränen kommen jedes Mal, und ich versuche ruhig ein- und auszuatmen.
An einem frostigen Februarmorgen im vergangenen Jahr richtete sich meine Großmutter in ihrem Pflegebett auf und sang. Sie sang so laut, dass die Schwester ins Zimmer kommen musste, um sie zum Schlafen zu ermahnen. Als diese eine Stunde später das Frühstück brachte, war sie bereits tot. Sie ist friedlich eingeschlafen. Später erzählte uns die diensthabende Schwester, was meine Oma kurz vor ihrem Tod gesungen hat: „Az a szép, az a szép.“ Übersetzt bedeutet das so viel wie „Oh wie schön, oh wie schön.“ Es ist tröstlich zu wissen, dass sie am Ende ein Lied auf den Lippen hatte.
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