Die Medizinische Kontinenzgesellschaft Österreichs (MKÖ) informiert in einer Presseaussendung darüber, dass Harninkontinenz während oder nach einer Schwangerschaft sehr häufig ist, denn etwa jede dritte Frau hat in dieser Lebensphase Probleme mit der Kontinenz. Jutta Tauderer ist Physiotherapeutin mit dem Fachschwerpunkt Urologie, Proktologie, Gynäkologie und Geburtshilfe. Mit uns hat sie im Interview über das Thema Inkontinenz bei jüngeren Frauen gesprochen. Es ist kein angenehmes Thema, darum ist es Zeit, darüber zu reden.
Inkontinenz aufgrund einer Schwangerschaft oder Geburt kann das Leben von Frauen massiv einschränken. Was würden Sie Frauen raten, die bei diesem Thema ein Gefühl der Scham empfinden oder ungerne darüber sprechen?
Ich sehe es eher als Aufgabe der gesamten Gesellschaft, über körperliche Vorgänge von Frauen mehr zu sprechen. Dabei geht es mir allerdings nicht nur speziell um die Inkontinenz, es fängt bereits damit an, dass wir ungern über die Menstruation der Frau reden. Denken Sie mal daran, wenn wir in Gesellschaft einen Tampon benötigen, dann wird hinter vorgehaltener Hand getuschelt um danach so unauffällig wie möglich in Richtung Toilette zu gehen. Etwa jeder zweite Mensch auf der Welt ist eine Frau, die monatliche Blutung ist normal und trotzdem ist da noch immer ein Gefühl, dass wir nicht offen darüber reden dürfen. Dieses Schamgefühl fängt bei vielen Frauen bei der Periode an und zieht weite Kreise, wenn es um die Themen Sexualität, körperliche Veränderungen bei Schwangerschaft und Geburt geht. Ich denke, es gibt viele natürliche Körpervorgänge, die mit Scham besetzt sind, hier sollte man sich selbst öfter hinterfragen, warum man dies so empfindet. Ich ermutige Frauen daher, sich mit ihrem Körper zu befassen und ihn auch zu entdecken.
Denken Frauen, es wäre normal, dass das Harnhalten nach einer Schwangerschaft oder Geburt eben einfach nicht mehr so gut funktioniert?
Ich erlebe es in meiner Praxis öfter so, ja. Nach der Geburt oder auch schon während der Schwangerschaft bemerken manche Frauen, dass es ihnen nicht so gut gelingt den Harn zu halten. Meist wendet man sich mit dem Thema an die eigene Mutter, Tante oder an eine Freundin, die bereits entbunden hat und bekommt Antworten wie: „Ja das ist normal, das ist so, wenn man ein Kind bekommen hat.“ Das führt dazu, dass Frauen dem Thema nicht mehr nachgehen und es akzeptieren, dass sie zum Beispiel beim Husten Harn verlieren. Ich möchte ausdrücklich betonen, dass es nicht normal ist und man sich dem Thema unbedingt widmen sollte. Und obwohl eine Schwangerschaft sicher ein Risikofaktor für Inkontinenz ist, gibt es auch Frauen, die schon seit ihrer Kindheit in bestimmten Situationen unfreiwillig Harn verlieren, etwa beim Lachen.
Man hört auch ganz oft von Frauen, dass sie nach einer Geburt nicht mehr Trampolin springen können oder beim Training Probleme haben, den Harn zu halten.
Dazu möchte ich festhalten, dass Trampolinspringen, evolutionär gedacht, keine natürliche Bewegung ist. Ich traue mich zu behaupten, dass keine Frau kontinent sein muss, wenn sie es tut. Rein evolutionär gesehen muss der Beckenboden in Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt in der Lage sein, mehrere Kinder „auszuhalten“. Frauen sollten nach einer Geburt ihr Kind ohne Kontinenzprobleme versorgen, tragen oder mit einem Kind auf dem Arm flüchten können – wenn wir beim evolutionären Gedanken bleiben. Er ist nicht dafür ausgelegt, dass wir 10 Minuten im Hampelmann auf und ab springen. Es gibt Untersuchungen an Spitzensportlern etwa, wo eine erschreckend hohe Anzahl der Frauen inkontinent ist, obwohl sie nie schwanger waren und keine Geburt erlebt haben.
Laut MKÖ ist jede dritte Frau nach der Geburt mit dem Thema Harninkontinenz konfrontiert, jede zehnte mit Stuhlinkontinenz. Was kann man konkret bei den Formen der Inkontinenz tun?
Hier bedarf es einer sehr guten Anamnese und Befunderhebung, aus diesem Grund empfehle ich jeder Frau, die Kontinenzprobleme bemerkt, sich zur Abklärung in professionelle Hände zu begeben. Denn nur in diesem Bereich ausgebildete Physiotherapeuten, Gynäkologen oder Urologen können eine korrekte Diagnostik anbieten. Die Therapie des Beckenbodenmuskels ist auch nur dann sinnvoll, wenn bestätigt ist, dass die Inkontinenz aufgrund eines Beckenbodenproblems entstanden ist. Wichtig zu wissen ist, dass nicht jede inkontinente Frau automatisch einen schwachen Beckenboden hat. Es gibt verschiedene Formen der Harninkontinenz, wie etwa auch die Dranginkontinenz, bei der Frauen, wenn sie beim Harndrang nicht sofort die Möglichkeit zum Toilettenbesuch bekommen, Harn verlieren. Meistens haben diese Frauen sogar eine sehr hohe Spannung im Beckenboden und in den Bauchmuskeln, in solchen Fällen setzt die Therapie dabei an, dass die Spannung reguliert wird.
Zur Stuhlinkontinenz zählen nicht nur Betroffene, die nicht in der Lage sind den Stuhl zu halten, sondern auch die Windinkontinenz. Das ist die Unfähigkeit Blähungen zurückzuhalten, in Situationen, in denen man das möchte. Diese betrifft viele Frauen bereits in der Schwangerschaft, denn der Beckenboden verändert sich als Vorbereitung auf die Geburt. Falls die Stuhlinkontinenz aufgrund eines schwachen Beckenbodens entstanden ist, kann in der Therapie gut daran gearbeitet werden, denn die hintere Schließmuskulatur kann ebenso trainiert werden wie die vordere, beide sind in die Gesamtmuskulatur des Beckenbodens eingebunden.
Sollte man nach einer Schwangerschaft immer zur Physiotherapie oder nur dann, wenn man Kontinenz Schwierigkeiten hat?
Nach einer Schwangerschaft würde ich empfehlen, zumindest einmal eine*n Physio-Therapeutin, -therapeuten mit dem Schwerpunkt Beckenboden aufzusuchen. Wenn das nicht möglich ist, so kann man zum Beispiel an einem Kurs zur Unterstützung der Rückbildung teilnehmen. Da gibt es – vor allem in der Stadt – ein großes Angebot. Es geht ja nicht nur um Therapie, sondern auch um Prävention!
Bei einer Einzeltherapie kann nach einer genauen Befunderhebung und Muskelfunktionsprüfung das weitere Vorgehen abgeklärt werden. Durch eine vaginale Untersuchung kann die Therapeutin genau feststellen, ob die Frau in der Lage ist, die richtigen Muskeln zu aktivieren und auch wie es um die Kraft, Ausdauer und Koordination der Beckenbodenmuskulatur bestellt ist. Durch diese international standartisierte Methode kann eine genaue Aussage über den Zustand des Beckenbodens getroffen werden und so bei Bedarf eine Therapie eingeleitet werden.
Was ist der Zeithorizont, wenn ich in der Physiotherapie an meinem Beckenboden arbeiten?
Das ist unterschiedlich, der Zeithorizont kann von ein paar Terminen bis zu mehreren Monaten Therapie reichen. Grundsätzlich sollten nach drei Monaten die ersten Verbesserungen eintreten, das ist der Zeitraum, den der Muskel braucht, um zu wachsen und stärker zu werden. Die optimale Begleitung sollte sich über mehrere Monate erstrecken, die Frauen können ab einem gewissen Zeitpunkt selbstständig üben, ein Kontrolltermin nach einiger Zeit ist aber absolut sinnvoll.
Ab welchem Alter sollte man mit der Prävention starten?
Der aus meiner Sicht richtige Ansatz wäre bereits mit Kindern und Jugendlichen über die körperlichen Vorgänge genau zu sprechen und ihnen zu erklären wie man sich etwa richtig auf die Toilette setzt. Das hätte gleichzeitig auch den Vorteil, dass Kinder lernen, über diese Dinge zu sprechen und sie in Worte zu fassen. Oft werde ich in der Therapie damit konfrontiert, dass Frauen nie gelernt haben, ihre Blase oder ihren Darm richtig zu entleeren, auch ich habe mich erst während meiner Ausbildung damit beschäftigt. Der beste Zeitpunkt, um sich mit seinem Beckenboden und allen körperlichen Vorgängen, die damit zusammenhängen, zu beschäftigen ist also schon im Rahmen der Erziehung. Mit dem Heranwachsen und Frau werden wird es Zeit über Menstruation und die damit verbundenen Hilfsmittel zu sprechen. Es wäre schön, wenn junge Frauen hier bereits ihren Beckenboden kennenlernen würden. Sei es vielleicht im Biologie- oder Sportunterricht oder auch durch Gespräche mit anderen Frauen, Müttern oder Freundinnen. Hier geht es auch um achtsamen Umgang mit dem Körper, schwere körperliche Arbeit, in Kombination mit ungünstiger Körperhaltung kann hier auch zu Schäden am Beckenboden sowie am gesamten Bewegungsapparat führen.
Was wäre die optimale Blasenentleerung?
Generell ist Pressen und starkes Drücken bei Blasen- oder Darmentleerungen keine gute Idee. Beim Harnlassen sollte man sich aufrecht hinsetzen, fast im Hohlkreuz, damit die Harnröhre in eine senkrechte Position gebracht wird. Anatomisch gesehen ist das die optimale Ausgangslage. Die Harnblase an sich ist ein glatter Muskel, ähnlich dem Herzmuskel, sie zieht sich von selbst zusammen und im Optimalfall lässt man die Blase ihre Arbeit auch selber tun. Sobald man den Harndrang verspürt und die Blase voll ist, sucht man die Toilette auf, setzt sich aufrecht und bequem hin, die Füße sollten gute Bodenhaftung haben und dann geht es nur mehr darum sich zu entspannen und ganz gemütlich darauf zu warten, dass die Blase sich entleert. Bitte nicht zusätzlichen Druck ausüben oder zwischendurch den Harnstrahl stoppen. Der Beckenboden kann dann nach der Entleerung wieder aktiviert werden.
Wie sieht so eine Aktivierung aus?
Diese Aktivierung des Beckenbodens kann man etwa während des Händewaschens machen, somit ist dies auch ein gutes Alltagsritual, mit dem man die Beckenbodenmuskulatur mehrmals am Tag trainieren kann. Allerdings gibt es auch viele Frauen, für die es schwierig ist, ihren Beckenboden gut zu spüren, man darf also nicht voraussetzen, dass jede Frau diese Aktivierung automatisch nebenbei machen kann. Um in Kontakt mit ihrem Beckenboden zu kommen, empfehle ich allen Frauen sich mit einem Spiegel selbst zu kontrollieren. Halten Sie den Spiegel dabei vor Ihre Vulva und spannen Sie den Beckenboden an. Wenn Sie beobachten können, dass sich die Schamlippen bewegen, der After mehr Falten bekommt und sich der Damm ein kleines Stück in den Körper hineinbewegt, sind Sie an der richtigen Stelle. Dies kann mit einem Finger auch innerhalb der Scheide selbst ertastet werden, mit diesem drückt man in Richtung Anus, also eher nach hinten und wenn man anspannt sollte man spüren können, wie sich die Scheide zusammenzieht. Wenn das funktioniert, hat man den Beckenboden gefunden, wenn man hier nichts spürt, dann macht es absolut Sinn sich professionelle Unterstützung in Form einer Einzeltherapie zu suchen.
Für Frauen die gerade planen ein Baby zu bekommen und die sich noch nicht mit dem Thema Beckenboden auseinandergesetzt haben, wäre also jetzt der ideale Zeitpunkt?
Das klingt ja immer ein bisschen wie eine Drohung: „Du musst jetzt deinen Beckenboden trainieren!“ Schön wäre, wenn es gelingen würde, es so zu formulieren: „Du lernst einen Schatz kennen, der dir gehört und der dich als Frau sehr bereichern kann, auch in Hinblick auf deine Sexualität. Wenn du als Frau in der Lage bist, diesen Muskel einzusetzen, dann ist das in vielen Situationen ein Gewinn und keine Bürde.“ Also weg vom Gedanken des Müssens hin zum Dürfen. Zum Beispiel strecken wir uns ab und zu, allerdings nicht, weil jemand sagt, man soll dies für die Wirbelsäule tun, sondern wir machen das intuitiv. Es wäre ideal, wenn es jeder Frau gelingen würde, dieses Bedürfnis auch in Hinsicht auf ihren Beckenboden zu wecken und dabei die Kraft aus ihrer Mitte zu spüren. Sich selbst gut zu kennen und zu wissen, wann man loslassen muss, ist auch in Hinblick auf eine Schwangerschaft und Entbindung bereits eine gute Prävention.
Das Thema Beckenboden hängt auch mit der Sexualität zusammen?
Mit dem Aufnehmen der Sexualität rückt der Beckenboden dann oft schon für jüngere Frauen in den Fokus, vor allem wenn manche bemerken, dass das schmerzhaft für sie ist. Das kann unter anderem mit einer Fehlspannung im Beckenboden zusammenhängen. In der Therapie unterstütze und begleite ich diese Frauen, sodass sie bewusst loslassen lernen und selbst Kontrolle über ihre Körperöffnungen erlangen. Das Thema kann auch Männer betreffen. Beispielsweise, wenn sie eine vorzeitige Ejakulation haben, die sie selbst oder die Partnerschaft belastet. Sehr häufig steht eine solche in Verbindung mit einem zu hohen Muskeltonus im Beckenboden, auch hier kann eine Physiotherapie sehr gut unterstützen.
Nach allem worüber wir gesprochen haben, müssen Frauen nun Angst vor einer vaginalen Geburt haben?
Bereits die Schwangerschaft an sich ist schon mehr Belastung für den Beckenboden, hier kommt es zu Veränderungen, die der Vorbereitung auf die Geburt dienen. Das ist der Grund, dass es auch bei Frauen, die per Kaiserschnitt entbunden haben, zu Inkontinenzproblemen kommen kann. Ein höheres Risiko für Inkontinenz oder Senkungen bergen schwere vaginale Geburten. Also vor allem sehr lange und komplizierte Geburten, bei denen es zu Verletzungen wie zum Beispiel großen Dammrissen kommt. Wenn hier Muskulatur verletzt wird, ist eine gute Rehabilitation wichtig. Dann ist auch die Wahrscheinlichkeit einer bleibenden Inkontinenz gering, man sollte davor keine Angst haben. Das wäre so, als würde man sich ständig fürchten einen Bandscheibenvorfall zu bekommen, was rein theoretisch möglich ist aber dennoch nicht eintreten muss. Die Geburtsvorbereitung ist daher wirklich wichtig, das Kennenlernen des Beckenbodens, die Möglichkeit der Beeinflussung der Muskulatur. Hier kann bereits sehr viel unterstützend getan werden.
Vielen Dank für das wertvolle Gespräch und die Zeit dafür. Ihre abschließenden Worte zu diesem Thema, was möchten Sie betroffenen Frauen mitgeben?
Ich möchte allen Frauen Mut machen, sich mit ihrem eigenen Körper zu beschäftigen und ich möchte allen Frauen Lust machen, ihren eigenen Beckenboden kennenzulernen. Nicht nur als Prävention oder Therapie in Bezug auf Inkontinenz, sondern auch in Verbindung mit ihrem eigenen Frausein und ihrer Sexualität.
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