Noch nie hatten Kinder so viele Möglichkeiten in allen Lebensbereichen – wie z.B. in der Technik, Bildung, Erziehung, Ernährung - wie heute. Noch nie hatten Eltern so viel Wissen über die kindliche Entwicklung, dank Erkenntnissen aus der Hirn-, Verhaltens- und Vererbungsforschung der letzten 60 Jahre. Wir sind definitiv die am besten ausgebildete Generation an Eltern und Tageseltern/Kinderbetreuer*innen/Kindergartenpädagog*innen bisher.
Es entsteht jedoch der Eindruck, dass die Vielzahl an Möglichkeiten und das umfangreiche Wissen bei vielen Eltern und Kindern ein Gefühl der Überforderung auslösen kann. Manche Eltern sind fast krampfhaft bemüht, alles Erdenkliche für die Entwicklung des Kindes zu tun. Viele versuchen mit Nachdruck, alle Begabungen der Kinder zu fördern. Bei den Kindern führt dies zu einem super-vollen Terminkalender, um neben Kindergarten und Schule jeglicher Begabungsförderung nachzukommen, wie z.B. dem Flötenunterricht, dem Ballettunterricht. Gleichzeitig zeigen Studien, dass Symptome für Stress, Depression, Demenz immer häufiger auch schon bei Kindern diagnostiziert werden. Ein weiteres Phänomen ist die sogenannte digitale Demenz bei Kindern und Jugendlichen. Das Gehirn wird aufgrund häufiger Verwendung zu vieler digitaler Medien immer weniger leistungsstark, dies ist schon bei Jugendlichen empirisch beobachtbar (Spitzer, 2014).
Aus diesen Beobachtungen resultieren zwei Handlungsoptionen: Variante 1: Wir müssen die Überforderung akzeptieren und kapitulieren, weil wir eine „zeitgerechte“ Kindererziehung nicht leisten können. Variante 2: Wir folgen einer positiven Grundhaltung, glauben an unsere Fähigkeiten als Eltern und Tageseltern/Kinderbetreuer*innen/ Kindergartenpädagog*innen und definieren Maßnahmen, wie wir auf die neuen Rahmenbedingungen zum Wohle der Kinder reagieren. Das Hilfswerk macht sich für die zweite Option stark. Wenn wir eine positive Grundhaltung vorleben, haben die Kinder eine Chance sich psychisch und physisch gesund weiter zu entwickeln.
Sehen wir uns einige Beispiele an, wie man als Elterngeneration gestaltend einwirken können:
Der gesellschaftliche Wandel ist unumstritten. Bis vor etwa 60 Jahren fand Kindererziehung irgendwie nebenher statt und wurde vorwiegend von Müttern erledigt. Heute sind Mütter genauso berufstätig wie Väter, dennoch versuchen beide Elternteile sich in die Erziehung ihrer Kinder einzubringen. Um Arbeit und Erziehung gut vereinbaren zu können, und damit das Kind nicht wieder zum Anhängsel wird, brauchen Kinder und Familien heute zusätzliche Unterstützung. Eltern können ihre Kinder beruhigt einer Tagesmutter/einem Tagesvater oder einer Kinderkrippe/einem Kindergarten anvertrauen (Ahnert, 2015).
Eine spezielle Weiterentwicklung stellt in jüngster Zeit die Einrichtung der Betriebstagesstätte dar. Hier erkennen Unternehmen, dass die qualitätsvolle Betreuung der Kinder eine wichtige Hilfestellung für ihre Mitarbeiter*innen ist und eine höhere berufliche Leistung ermöglicht. Die Betriebe machen es sich daher zur Aufgabe, für ihre Mitarbeiter*innen die Kinderbetreuung nahe am Arbeitsort zu organisieren. Das Hilfswerk unterstützt diesen Trend und setzt die Kinderbetreuung in Kooperation mit den Unternehmen um.
Der gesellschaftliche Wandel zeigt sich auch im immer größer werdenden Bedarf einer schulischen Nachmittagsbetreuung. Da die schulischen Herausforderungen für die Kinder steigen und Eltern durch doppelte Berufstätigkeit kaum Zeit haben, wird qualitative Unterstützung beim Lernen für die Kinder außerhalb der Familie immer wichtiger. Daher werden einerseits Ganztagsschulen implementiert und andererseits wird den Eltern für ihre Kinder eine qualitative, persönliche Betreuung am Nachmittag in Schulen in Kooperation mit dem Hilfswerk zur Verfügung gestellt. Unsere Mitarbeiter in diesem Bereich sind ausgebildete Kinderbetreuer*innnen mit Zusatzqualifikation der Freizeitpädagogik oder Hortbetreuer*innen/Hortpädagog*innen.
Nicht zuletzt ist der technische Wandel überall spürbar. Einerseits hat bereits fast jedes Schulkind ein Handy und andererseits werden digitale Netzwerke immer früher für unsere Kinder wichtig. Wenn unsere Kinder nicht zu „digitalen Anhängseln“ werden sollen, müssen wir als Eltern und Tageseltern/Kinderbetreuer*innen/Kindergartenpädagog*innen einwirken. Das bedeutet nicht, digitale Netzwerke aus den Kinderzimmern zu verbannen. Das bedeutet, sich den Kindern auch im digitalen Kinderzimmer zu widmen und ihnen - im richtigen Alter - einen bewussten Umgang mit neuen Medien zu erlernen.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die heutige Wahrnehmung vom „Kindsein“ als große Chance gesehen werden kann. Es geht darum, dass wir uns darauf besinnen, unseren Kindern Fragen zu stellen: Was nimmst du wahr? Was sind deine Bedürfnisse? Was sind deine Gefühle? Das „Ernstnehmen des Kindes“ bildet die Grundlage für unsere Entscheidungen: wann und wie wir unsere Kinder bewusst in die heutige Welt einführen und ihnen zeigen, wie sie mit der Ungewissheit unserer Zeit umgehen können. Vielleicht erkennen wir durch das ehrliche Gespräch, dass „zu viel Begabungsförderung auf einmal“ das Kind überfordert? Vielleicht gestehen wir uns ein, dass wir nicht alle Entwicklungswege unseres Kindes gezielt optimieren können, weil das Kind letztendlich selbst entscheiden wird?
Diese Überlegungen münden im Bild des Kindes als heranwachsenden, selbstbestimmten und bewusst handelnden Menschen. Diesem Bild fühlen wir uns als Fachbereich Kinderbetreuung der Hilfswerk Steiermark GmbH verpflichtet. Tag für Tag tun die gezielt ausgebildeten Tagesmütter/Tagesväter, Kinderbetreuer*innen und/oder Kindergartenpädagog*innen alles, um dieses Ziel zu erreichen.
Literaturangaben:
Ahnert L., (2015): Wieviel Mutter braucht ein Kind? Bindung – Bildung – Betreuung: öffentlich und privat. Springer Spektrum
Juul J., (2017): Dein kompetentes Kind. Auf dem Weg zu einer neuen Wertgrundlage für die ganze Familie. Rowohlt Taschenverlag
Spitzer M., (2014): Digitale Demenz. Wie wir uns und unsere Kinder um den Verstand bringen. Knaur
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