Wie würdet ihr jemandem Streetwork erklären, wenn man noch nie etwas davon gehört hat?
Nicole: Streetwork ist eine mobile, aufsuchende Jugendarbeit der Psychosozialen Dienste, für Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 12 und 26 Jahren. Wir bieten Beratung, Unterstützung und Begleitung und begeben uns in die Lebenswelt der jungen Menschen.
Christian: Wir sind eine Anlaufstelle mit festen Öffnungszeiten, die Jugendliche aufsuchen können. Ansonsten sind wir an den Schulen, bei der Feldarbeit oder unseren Präventionsworkshops anzutreffen. Diese Workshops behandeln unter anderem Themen wie Konflikte, Mobbing, Sucht oder Sexualpädagogik.
Roland: Wir bieten ein offenes Ohr, unterstützen Jugendliche in ihren Zielvorstellungen und bieten ein hohes Maß an Flexibilität. Uns kann man zeitnah, ohne lange Wartezeit, treffen - im Park, im Kaffeehaus, in der Disco. Wir sind da, wo Jugendliche uns brauchen.
Warum braucht es Streetwork?
Roland: Jugendliche sind nicht unbedingt eine Zielgruppe, der so viel Aufmerksamkeit gewidmet wird, dabei ist die Jugend eine so wichtige Zeit. Es ist die Zeit des Ausprobierens, vieles aus der Kindheit kommt auf. Einige Risiken, aber auch Gefahren. Viele haben eine Hemmschwelle, über Themen zu sprechen, da sich nicht jede*r zu Hause so gut mit der Familie versteht oder mit ihnen reden kann. Daher ist es wichtig, dass es außerhalb der Familie professionelle Einrichtungen gibt. Ein großer Vorteil ist die Niederschwelligkeit des Angebots.
Was meint ihr damit?
Christian: Die Zugangshürden müssen so gering wie möglich sein, ganz ohne bürokratischen Aufwand. Als Jugendliche*r bin ich in einer Problemsituation. Da brauche ich keine komplizierte Terminvereinbarung, keine Kommunikations-, oder Zugangshürden. Unsere Unterstützung erfolgt zeitnah, was in vielen anderen Bereichen nicht immer möglich ist.
Ein großer Teil eures Jobs ist die Feldarbeit. Wie kann man sich das vorstellen?
Roland: Außerhalb unserer Anlaufstelle sind wir unterwegs, also auf öffentlichen Plätzen, bei Veranstaltungen, in Discos. Jugendliche kennen uns zum Teil schon durch Schulpräsentationen oder Social Media und können uns einfach ansprechen. Die Gründe für Gespräche sind äußerst unterschiedlich und reichen von „Ich bräuchte ein Kondom“ bis hin zu Jugendlichen, die Gerichtsbriefe dabeihaben oder sich in Trennungssituationen befinden. In Notsituationen intervenieren wir ebenfalls.
Nicole: Es kann auch vorkommen, dass uns jemand von der Gemeinde kontaktiert, damit wir uns sogenannte Hot Spots anschauen. Das sind Orte, an denen es oft laut ist oder an denen viel Müll zurückgelassen wird. Wir sind für Tipps von Anrainern oder der Gemeinde sehr dankbar. Auch die Zusammenarbeit mit Eltern ist sehr gut, und unser Angebot wird vermehrt von ihnen in Anspruch genommen. Wir sind auch das Sprachrohr gegenüber Gemeindevertreter*innen, um uns für Anliegen der Jugendlichen einzusetzen und Partei zu ergreifen. Streetwork kann man als Drehscheibe sehen.
Wir haben wieder eine Generation, die weiß, wie es ist, in einer Krise groß zu werden. Die letzte Generation, die eine Krise wie Corona erlebt hat, hatte keine Ahnung, wie es ist, in einer Krise zu sein.
Ihr arbeitet vielseitig und unterstütz wo ihr könnt. Wo liegen eure Grenzen?
Nicole: Wenn Jugendliche mit Anliegen zu uns kommen und wir psychische Probleme, depressive Verstimmungen oder Ähnliches bemerken, dann haben wir auch Kontakte zu therapeutischen Einrichtungen und begleiten auch dabei, höherschwellige Angebote in Anspruch zu nehmen, natürlich immer nur unter Absprache. Wenn wir merken, dass eine Diagnose im Raum steht oder Traumata vorhanden sind, dann verweisen wir weiter. Entlastungsgespräche alleine reichen in solchen Fällen nicht mehr aus.
Wie groß ist Thema „Süchte“ aktuell bei Jugendlichen?
Roland: Süchte sind immer ein Thema. Jugendliche probieren aus, experimentieren. Es gibt aber auch viele, die das gar nicht interessiert. Bei Süchten gibt es zum einen Gefahren und Risiken durch unmittelbare Bedrohung, wie eine Überdosierung oder Autofahren unter Einfluss, aber auch langfristig die Entwicklung einer Abhängigkeit. Das „Feierarbend-Trinken“, der regelmäßige Joint mit Freund:innen - aus Regelmäßigkeit, wird Gewohnheit und draus entsteht Abhängigkeit.
Nicole: Speziell auch in Kombination mit belastenden familiären Umständen oder schwierigen Jobsuchen werden Alkohol oder illegale Substanzen als Konfliktlöser gesehen. Das kann zu einer Suchtspirale führen.
Christian: Über die Zeit hinweg habe ich die Erfahrungen gemacht, dass Jugendliche Substanzen als eine Art Selbstmedikation nutzen, um aufgrund von Erfahrungen mit Freunden und Bekannten zu dem Schluss zu kommen, dass "Wenn ich dies oder jenes konsumiere, fühle ich mich über einen bestimmten Zeitraum besser und meine Probleme werden kleiner." Dies steht im Gegensatz zum gelegentlichen Probierkon-sum, der oft wellenartig wie ein Trend verläuft.
Roland: Aktuell merke ich auch einen Trend in Richtung von Substanzen, die berauschen, aber noch immer auf irgendeine Art und Weise legal sind. Nikotinpäckchen dienen oft als Einstieg und sind ein großes Thema. In unseren Schulworkshops informieren wir Jugendliche und Eltern darüber, was sie tun können, wenn dieses Thema aufkommt. Prävention ist enorm wichtig.
Gibt es Suchtthemen, die neu aufgekommen sind? Beispielsweise das Internet, Videospiele oder digitale Medien?
Christian: Was ich in Hinsicht auf digitale Medien stark wahrnehme, ist eine Veränderung in Ruhephasen. Früher wurde in Gruppen getratscht, heute sitzt jeder vor dem Smartphone und scrollt. Mein Eindruck ist, dass Kids wirklich Stress bekommen und sich an rein virtuelle Trophäen klammern. Das spielt in unsere Arbeit mit hinein. Extrem merkt man es meiner Meinung nach in Bezug auf die Aufmerksamkeitsspanne. Man muss darauf achten, gewisse Themen oder Punkte nicht zu ausführlich und zu lange zu kommunizieren und schnell auf den Punkt kommen. Das ist für mich die gravierendste Änderung.
Roland: Eine Studie aus Deutschland (Blikk 2017) etwa hat gezeigt, dass zu exzessive Nutzung von Smartphones bei Kindern auch zu Entwicklungsverzögerungen wie Hyperaktivität, Sprachentwicklungsstörungen und Konzentrationsproblemen führen kann. Social Media ist kein Ersatz für Aufmerksamkeit und Erziehung – Kinder und Jugendliche brauchen Begleitung, sprich Zeit, Zuwendung und Grenzen. Streetworker:innen versuchen Jugendlichen Zeit, Raum und physische Präsenz entgegenzubringen, damit sie hier auch viel nachlernen können. Wir möchten vermitteln, wie sie digitale Werkzeuge in einem gesunden Maß sinnvoll nutzen und ihr Leben organisieren können.
Nicole: In Suchtworkshops verwenden wir auch Statistiken über die Nutzung von Smartphones. Dabei rechnen wir gemeinsam nach: Ein Tag hat 24 Stunden, so und so viel Zeit verbringst du am Handy, so und so viel in der Schule. Mit einem einfachen Rechenbeispiel möchten wir den Konsum greifbar machen. Dabei muss man erwähnen, dass auch immer ganz viel nebenbei passiert. Mitten im Gespräch poppen Benachrichtigungen auf. Das begünstigt die Abhängigkeit.
Ihr nutzt Social Media aber auch, um Jugendliche zu erreichen. wie nutzt ihr diese Medien für euch?
Roland: Die Botschaften, die wir vermitteln, sind sinnvoll. Aus psychotherapeutischer Sicht geht es darum, als Individuum Dinge wahrzunehmen, Dinge zu bewegen, Dinge zu verändern. Gemeinsames Gestalten bietet die Möglichkeit zu reflektieren und zu zeigen. Daher sind soziale Medien toll, um zu zeigen, was man gemacht hat, wie etwas entsteht. Man kann sich beteiligen, kann es nutzen. Es gäbe auch genügend Möglichkeiten am Handy, um die Entwicklung zu fördern, wenn man es mit Maß und Ziel einsetzt. Als Streetworker*innen sind wir nicht auf Verbote aus, unser Ansatz ist sehr akzeptierend. Wir arbeiten mit Jugendlichen in ihrer Lebenswelt, fragen auch nach, wie sie Dinge sehen. Wir nutzen Dinge, die Jugendliche nutzen – das ist in unserer Arbeit wichtig.
Nicole: Digitale Medien sind wichtig für die Informationsweitergabe und auch für unsere Öffentlichkeitsarbeit. Auch Bürgermeister*innen oder Geldgeber*innen können so die Arbeit wahrnehmen. Es ist wichtig, dass Jugendliche wissen „Ah, heute ist Nicole bis 24 Uhr unterwegs, da ist die Telefonnummer.“ Und zugleich sehen Bürgermeister*innen: „Streetwork ist heute wieder in meiner Region unterwegs.“
Christian: Wir möchten vorzeigen, wie man Social Medial als Werkzeug nutzen kann. Ein System kann ich nur ändern, wenn ich Teil des Systems bin. Auch wenn das, was wir machen, eher ein Tropfen auf dem heißen Stein ist.
Roland: Mit Streetwork erreichen wir immer wieder benachteiligte Jugendgruppen, die andere Angebote nicht nutzen oder ablehnen. Wir erreichen junge Menschen, die wirklich Probleme haben, bei denen es ohne Unterstützung und Hilfe schlechter wird. Da sind wir manchmal die Ersten, die vertrauensvollen Kontakt zu Jugendlichen bekommen und mit ihnen den Weg ebnen, dass sie Hilfe annehmen.
Nicole: Es ist einfach wichtig, eine Anlaufstelle zu haben. Mit guter Arbeit in der Prävention, lässt sich langfristig gesehen viel abfedern. Gerade diese Niederschwelligkeit ist eine immense Erleichterung für Jugendliche.
Roland: Wir merken, dass Streetwork als Anlaufstelle wirklich genutzt wird und es uns so gelingen kann, Jugendliche wieder in die Gesellschaft zu holen, wenn sie drohen rauszufallen. Das hat man in der Pandemie stark gemerkt.
Christian: Wenn ich die Arbeit vor 15 Jahren mit heute vergleiche, brauchen Jugendliche Beziehungen mehr als früher. Damals war es wichtig Aktionen zu setzen, damit Jugendliche Dinge tun können. Heute gibt es so viele Möglichkeiten, oft kostenlos oder kostengünstig. Hier sind wir abgedeckt. Das, was fehlt und wichtig geworden ist, ist Beziehung. Kontakt, Vertrauenswürdigkeit, das fehlt teilweise in den Familiensystemen. Nicht weil sie nicht können sondern weil es eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung gibt, dass Familien oft aufgrund von Überforderungen nicht nachkommen können. Wenn Eltern überfordert sind, fehlt dann auch oft die Kraft, um da zu sein, die Ressourcen sind, obwohl nicht gewollt, nicht vorhanden.
Nicole: Hier gibt es einen gewaltigen Wandel in den letzten Jahren. Viele Jugendliche kommen zu uns wenn es um psychische Gesundheit geht: Selbstverletzendes Verhalten, Suizidgedanken, depressive Verstimmungen, aber auch Ängste. Das ist deutlich gestiegen.
Was stimmt euch zuversichtlich, wenn ihr an die Jugend von heute denkt?
Roland: Ich erlebe viele Jugendliche heutzutage als sehr offen, interessiert, bemüht und hilfsbereit. Sie sind kritisch und hinterfragen. Es wird auch viel diverser und weniger patriarchal gedacht, und egal ob Mann oder Frau, es kommt auf die Person an. Die Jugend ist sehr engagiert und verlässlich und sie machen gerne etwas für andere und nicht nur für sich selbst.
Nicole: Viele Jugendliche haben die Ressourcen, um mit Krisen umzugehen. Wenn man da gut hinschaut, was sie brauchen und da ist, wenn es mal nicht so läuft, glaube ich, dass die Jugend von heute sehr gut ihren Weg geht. Unser Auftrag ist es mit Jugendlichen gemeinsam positiv in Zukunft zu schauen, Perspektiven zu entwickeln, Zielvorstellungen zu unterstützen. Wir sollten nicht auf Defizite schauen, nach vorne schauen. Hier braucht es eine Vorbildwirkung von uns.
Was kann man von der Generation Z lernen?
Nicole: Offenheit, kein starrer Blick in eine Richtung. Egal ob beruflich oder auf Geschlechter, Beziehungen oder Religion bezogen. Das ist sehr positiv.
Roland: Macht und Machtmissbrauch wird stark hinterfragt und beschäftigt die Jugendlichen. Was ist fair? Was ist unfair? Die Generation Z besitzt eine kritische Denkweise und viel Engagement.
Christian: Wir haben wieder eine Generation, die weiß, wie es ist, in einer Krise groß zu werden. Die letzte Generation, die eine Krise wie Corona erlebt hat, hatte keine Ahnung, wie es ist, in einer Krise zu sein. Wahrscheinlich ist es eine Generation wie alle anderen zuvor auch, die mit irrsinnig viel Potenzial daherkommt, und ganz viel Verantwortung liegt nun bei uns, ihnen nicht die Schranken herunterzulassen und zu sagen „So nicht.“ Auch bei vorherigen Generationen war es so, dass junge Leute aufstehen und sagen: „Nein, wir wollen das nicht und wir machen das jetzt so“. Hier liegt es an uns nicht alles zu verurteilen. Als Erwachsene dürfen wir kritisch sein, wir müssen jedoch von unserem hohen Ross herunterkommen und auch etwas von den Jungen annehmen, wenn wir wollen, dass sie etwas von uns annehmen.
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