Österreich treibt auf einen Fachkräftemangel historischen Ausmaßes zu. Langfristig wirksame Gegenmaßnahmen müssen schon im Kindergarten ansetzen. Denn hier wird – entsprechende Rahmenbedingungen vorausgesetzt – der Grundstein für erfolgreiche Bildungskarrieren gelegt. Das Hilfswerk Österreich führt am Internationalen Tag des Kindergartens den Status quo des Elementarbereichs vor Augen und mahnt überfällige Maßnahmen der Politik ein.
Die Politik hat sich vor rund zwei Jahrzehnten dazu bekannt, der Wissenschaft zu folgen und elementarpädagogische Einrichtungen als entscheidende Stationen in der Bildungskarriere von Kindern anzuerkennen. Dennoch leiden Kinderkrippen und Kindergärten unverändert unter fragwürdigen Rahmenbedingungen, insbesondere unter unzureichenden finanziellen und personellen Ressourcen. Die individuelle Förderung von Interessen bleibt im Alltag zwangsläufig auf der Strecke. „Wir verwehren Kindern die frühe Entfaltung ihrer Talente und damit wichtige Bildungs- und Lebenschancen. Das gilt nicht zuletzt für den so wichtigen MINT-Bereich“, betont Hilfswerk-Präsident Othmar Karas und warnt: „Vor dem Hintergrund eines sich verschärfenden Fachkräftemangels kann dies langfristig schwerwiegende Konsequenzen haben.“
Talente früh fördern, Zukunftschancen verbessern
Studien belegen, dass Talente und Interessen im Alter von 0 bis 5 Jahren besonders effektiv gefördert werden können. Vor allem für den zukunftsträchtigen MINT-Bereich (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) ist das Vorschulalter von großer Bedeutung. Kinder, die früh in Kontakt mit Naturwissenschaften und Technik kommen, entwickeln langfristig eine positive Einstellung und ein besseres Verständnis dafür. Insbesondere Mädchen und Frauen, deren Anteil in MINT-Ausbildungen nach wie vor deutlich geringer ist, können mithilfe eines positiven Selbstkonzepts von Anfang an bestmöglich an diesen Bereich herangeführt werden.
Dass der MINT-Arbeitsmarkt boomt, zeigt eine Analyse der Industriellenvereinigung (IV). Bis zum Jahr 2035 wird mit einem Plus von 3,5 Millionen zusätzlichen MINT-Jobs in Europa gerechnet. Doch bereits jetzt ist der Fachkräftemangel im MINT-Bereich eklatant: 80 Prozent der österreichischen Industrieunternehmen berichten in Technik und Produktion (inkl. IT) von Rekrutierungsproblemen (IV 2021). Um den Innovationsnachwuchs von morgen zu sichern, ist eine frühe und kontinuierliche MINT-Förderung entscheidend, so die IV. „Wir leben in einer technikorientierten Welt, MINT-Kompetenzen sind daher heute immer stärker gefragt. Bereits jede dritte offene Stelle in Österreich ist dem MINT-Bereich zuzuordnen. Wenn wir es schaffen, unsere Kinder schon früh für den MINT-Bereich zu begeistern, dann machen wir ihnen diese Chancen zugänglich. Unsere Kindergärten werden damit zu Sprungbrettern in die Zukunft“, betont IV-Experte Dr. Wolfgang Haidinger.
Steigender Bedarf an Fachpersonal im Elementarbereich
Damit (MINT-)Bildung im Kindergarten gelingen kann, braucht es einerseits sinnvolle Unterstützungen des pädagogischen Personals, etwa durch Weiterbildungen und adäquate Ressourcen. „Andererseits kämpfen wir im elementarpädagogischen Bereich bereits jetzt mit einem Personalengpass. Dieser wird sich in den kommenden Jahren weiter verschärfen, wenn nicht mit entsprechenden Maßnahmen gegengesteuert wird“, sagt Hilfswerk-Geschäftsführerin Elisabeth Anselm.
Bis zum Jahr 2030 wird sich laut einer Studie des Österreichischen Instituts für Berufsbildungsforschung (öibf) und der Universität Klagenfurt die Zahl der benötigten Plätze in elementaren Bildungseinrichtungen um 34.800 erhöhen. Somit steigt der zusätzliche Personalbedarf bis 2030 auf 13.700 bis 20.200 (je nach Variante/Fachkraft-Kind-Relation) – und wird aus aktueller Sicht nicht zu erfüllen sein. Zwar entwickelt sich die Zahl der Absolventinnen und Absolventen von elementarpädagogischen Ausbildungen positiv, jedoch bleibt nur etwa ein Drittel im Berufsfeld. Hinzu kommt die hohe Dropout-Rate: Viele Pädagoginnen und Pädagogen kritisieren die herausfordernden Arbeitsbedingungen. „Wenn die Attraktivität des Berufs sowie dessen Rahmenbedingungen nicht erheblich verbessert werden und nicht mehr Personal ins System kommt, sind Bestand und Qualität etlicher elementarpädagogischer Einrichtungen ernsthaft gefährdet“, betont Anselm.
Gezielte Ausbildungsoffensive und verbesserte Rahmenbedingungen
Das Hilfswerk fordert daher eine gezielte Ausbildungsoffensive im elementarpädagogischen Bereich. Es brauche unter anderem mehr Ausbildungsplätze im tertiären und nicht-tertiären Bereich, attraktive und flexible Angebote zur Aufschulung von Assistenzpersonal sowie spezifische Angebote für Interessentinnen/Interessenten mit Migrationshintergrund. Ebenso dringend müssten die Rahmenbedingungen verbessert werden: Als Beispiele nennt Karas Betreuungsschlüssel nach wissenschaftlichen Standards, bessere Weiterbildungsmöglichkeiten, weniger bürokratische Belastung für pädagogische Fachkräfte, Anpassungen im Gehaltsbereich sowie Einstiegsprämien.
„Dafür braucht es vor allem auch eine bessere Finanzierung der Träger, um finanziellen Spielraum zu schaffen. Hier sind Bund und Länder in der Pflicht und müssen entsprechende budgetäre Entscheidungen im Zuge des angelaufenen Finanzausgleichs treffen!“, so Karas. Er appelliert: „Beseitigen wir die strukturellen Mängel in Kinderkrippen und Kindergärten, damit junge Menschen ihre Potenziale voll ausschöpfen können – für sich selbst, aber auch für Wirtschaft und Gesellschaft!“
Hilfswerk startet MINT-Initiative „Forschen. Entdecken. Begeistern“
Das Hilfswerk ist einer der erfahrensten und bewährtesten gemeinnützigen Träger von Kinderbetreuung in Österreich. Es beschäftigt rund 2.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Bereichen Kinderbetreuung, Lernhilfe und Jugendarbeit. Diese betreuen, begleiten und fördern rund 20.000 Kinder und Jugendliche.
Mit dem Fachschwerpunkt „Forschen. Entdecken. Begeistern. Die Hilfswerk Initiative rund um Kinder und MINT“ setzt das Hilfswerk selbst unterschiedliche Maßnahmen zur MINT-Förderung um. Ein spezifisches Fortbildungsprogramm, eine Online-Plattform und Lernplakate sollen Lust auf MINT machen und die 2.500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Kinder- und Jugendbereich dabei unterstützen, MINT-Themen proaktiv in den pädagogischen Alltag zu integrieren. „Damit stärken wir unsere Pädagoginnen und Pädagogen und gleichzeitig die von ihnen betreuten Kinder“, erläutert Rebecca Janker, fachliche Leitung des Bereichs Kinder, Jugend, Familie und Psychosoziale Dienste beim Hilfswerk Österreich. „Denn wer mit positiver Einstellung und erlebter Selbstwirksamkeit an naturwissenschaftliche oder technische Inhalte herangeht, vermittelt sie auch Kindern nachweislich besser.“ Zu den weiteren Maßnahmen zählen die Broschüre und Online-Plattform „MINT BRINGT’S“ für Eltern und Erziehende, eine Social Media Kampagne (u. a. mit TikTok-Videos von Experimenten) sowie die Roadshow „Hilfswerk on Tour“ quer durch Österreich.
Der Hilfswerk Fachschwerpunkt MINT wird unterstützt vom Bundeskanzleramt/Bundesministerium für Frauen und Integration. Zudem setzt das Hilfswerk auf starke Partner wie Erste Bank und Sparkassen und Wiener Städtische Versicherung.