Der 13. September ist der Tag der pflegenden Angehörigen. Aus diesem Anlass weist das Hilfswerk Österreich, der landesweit führende Anbieter mobiler Pflegedienste, einmal mehr darauf hin, dass im staatlichen Pflegegeldsystem insbesondere demenzbetroffene Menschen und ihre pflegenden Angehörigen massiv benachteiligt sind.
„Es kann nicht angehen, dass wir eine Gruppe von Betroffenen und damit auch deren pflegende Angehörige systematisch schlechter behandeln“, meint Elisabeth Anselm, Geschäftsführerin des Hilfswerk Österreich, und fährt fort: „Die am 2. Juli 2019 im Nationalrat beschlossene Valorisierung des Pflegegelds in allen Pflegestufen war längst überfällig. Sie kann jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass das 25 Jahre alte System einer dringenden Reform bedarf. Das betrifft die Frage der nachhaltigen Finanzierung ebenso wie die Ausgestaltung der Bezugskriterien“, meint Anselm. Die Einstufungslogik sei in ihren Grundzügen über ein Vierteljahrhundert alt, auf körperliche Einschränkungen fokussiert und die Bewertungslogik insgesamt zu holzschnittartig und wenig differenziert. Selbsthilfepotenzial und Unterstützungsbedarf seien auch von neurologischen (Stichwort Demenz), von psychologischen, psychosozialen und lebenssituativen Faktoren beeinflusst (Familiensituation, Wohnumfeld). Die reale Erfassung der Situation Betroffener verlange überdies insgesamt eine differenziertere Bewertung als es die derzeitige Ja-Nein-Logik im österreichischen Einstufungsverfahren vorsehe. „Kein Wunder, dass die Hälfte aller angefochtenen Pflegegeldbescheide revidiert werden oder in einen Vergleich münden“, argumentiert Anselm.
Deutschland: Fairness für Frau Müller durch differenzierte Einstufung
2017 wurde die Begutachtung und Bedarfsfeststellung im deutschen Pflegeversicherungssystem modernisiert und auf neue Beine gestellt. In die Ermittlung des jeweiligen Pflegegrads (1 – 5) fließen seither zahlreiche relevante Faktoren ein – genau definiert und gewichtet. Die Feststellung der einzelnen Beeinträchtigungen erfolgt nicht nach dem Schema „ja-nein“, sondern in differenzierten Abstufungen: „keine, geringe, erhebliche, schwere und vollständige“ Beeinträchtigung.
Anhand eines typischen Fallbeispiels lassen sich die Unterschiede zwischen deutschem und österreichischem System aufzeigen und die Ungerechtigkeit des letzteren gut vor Augen führen (siehe detaillierte Beschreibung und tabellarische Übersicht – Download-Option unten!!!):
Frau Müller ist verwitwet, lebt seit zwei Jahren alleine in ihrer Wohnung, ihre beiden Kinder wohnen im gleichen Haus. Der Allgemeinzustand Frau Müllers ist altersadäquat, ihre motorischen Fähigkeiten sind kaum eingeschränkt, sie kann ohne Hilfe gehen und Treppen steigen. Zunehmend manifestiert sich jedoch eine Demenz. Sie benötigt zudem eine Inkontinenzversorgung und muss auf Grund ihrer chronischen Venenschwäche Medikamente nehmen und Kompressionsstrümpfe tragen. Beim Waschen und Aus- und Ankleiden – insbesondere der Kompressionsstrümpfe – erhält Frau Müller morgens und abends Unterstützung durch einen professionellen Unterstützungsdienst. Ihre Tochter versorgt sie mit Mahlzeiten, hilft im Haushalt, beaufsichtigt mittags die Medikamenteneinnahme. Sie hat für ihre Mutter Leistungen aus der deutschen Pflegeversicherung beantragt.
In der Gesamtbewertung der Deutschen Pflegeversicherung landet Frau Müller nach Gewichtung aller Beeinträchtigungen im Pflegegrad 3 von 5, also in der Mitte des Spektrums.
Lebte Frau Müller hingegen in Österreich, würde sie mit all ihren Beeinträchtigungen nur in der Pflegestufe 1 von 7, also am untersten Ende der Skala mit minimalem Pflegegeldanspruch landen.
„Dieses Beispiel sollte allen wahlwerbenden Parteien zu denken geben, gerade an einem Tag wie heute“, meint Elisabeth Anselm. „Die Reform des Pflegegeldsystems duldet keinen Aufschub mehr und muss an der Realität der Betroffenen sowie ihrer pflegenden Angehörigen Maß nehmen. Gerade bei demenziellen Beeinträchtigungen muss das Pflegegeld Spielraum für Entlastung durch professionelle Unterstützung schaffen“, fordert Anselm.