Am Sonntag, 12. Mai 2019 ist nicht nur Muttertag, sondern auch der „Tag der Pflege“. Als führender Träger in der Pflege und Betreuung älterer und chronisch kranker Menschen nimmt das Hilfswerk Österreich dieses Datum zum Anlass, erneut auf die Bedürfnisse von Menschen hinzuweisen, die mit der pflegerelevanten Hauptdiagnose Demenz leben. Das ist jede/r vierte Bürger/in über 80 Jahre und fast jede/r zweite über 90 Jahre.
Insgesamt leben derzeit 130.000 Österreicherinnen und Österreicher mit demenziellen Beeinträchtigungen. Gesellschaft und Gesundheitssystem müssen sich aber schon jetzt darauf einstellen, dass sich diese Zahlen deutlich erhöhen werden, denn: Der wichtigste Risikofaktor ist die steigende Lebenserwartung. Bis zum Jahr 2030 wird sich die Zahl der Menschen mit Demenz etwa verdoppeln.
Die Diagnose betrifft nicht nur die erkrankten Personen, sondern in ganz besonderer Weise auch deren persönliche Umgebung: Familie, Angehörige und Pflegende. Trotz der massiven Betroffenheit schwankt der gesellschaftliche Umgang mit Demenz zwischen Verdrängung und Tabuisierung auf der einen Seite sowie der Schaffung isolierter Vorzeigemodelle ohne Flächenwirkung und gut gemeintem, aber wenig wirksamen Lob für die Angehörigen auf der anderen Seite. Beides hilft uns nicht weiter.
Mitten in der Gesellschaft – und doch außen vor
Was aber muss tatsächlich geschehen? Woran verzweifeln Betroffene demenzieller Erkrankungen und ihre Angehörigen in der Praxis? Welche Angebote brauchen sie? Wie steht es mit der Umsetzung der „Österreichischen Demenzstrategie“? Und was muss der „Masterplan Pflege“ für Demenzkranke und deren Angehörige leisten?
Führt man sich die Anzahl der Menschen mit Demenz vor Augen und rechnet ihre unmittelbaren Angehörigen dazu, müssten fast alle Österreicher/innen tagtäglich mit Demenz-Betroffenen in Kontakt kommen. Das Gegenteil ist aber der Fall, denn die Diagnose „Demenz“ bedeutet in der Regel Stigmatisierung, Ausgrenzung und eine in Gang gesetzte Schweigespirale. „Von ihren Mitmenschen werden Personen mit Demenz oft auf die Rolle als ‚Patienten‘ bzw. auf ihre Defizite reduziert“ sagt der Demenz-Experte und diplomierte psychiatrische Gesundheits- und Krankenpfleger Raphael Schönborn.
Schönborn und das Hilfswerk Österreich fordern ein Umdenken und die entsprechenden Rahmenbedingungen, um die gesellschaftliche Teilhabe aller Betroffenen zu ermöglichen. „Ein Mensch mit Demenz hört nicht auf Mensch zu sein. Wir brauchen als Gesellschaft einen anderen Umgang mit dem Phänomen Demenz“, betont Raphael Schönborn. „Weg von der Stigmatisierung, weg vom medizinisch geprägten Krankheitsdenken, hin zu einem Betreuen und Begleiten, das Menschen mit Demenz weiter als Menschen wahrnimmt“, fordert der Experte.
Eine lebensweltliche Pflegekultur berücksichtige die individuellen biografischen Rahmenbedingungen der Betroffenen und orientiere sich an der alltäglichen Lebensrealität, an Bedürfnissen und vorhandenen Ressourcen, so Schönborn. Seiner Ansicht nach müssten „Special Care Units“ mit dem Schwerpunkt Demenz in den pflegerischen Regelbetrieb bestmöglich integriert werden. „Nur so kann es gelingen, Menschen mit Demenz von Objekten der Pflege zu Subjekten der Begegnung werden zu lassen“, erläutert Schönborn.
Demenz in jeder Familie
„Das Phänomen Demenz muss in seiner Komplexität, seiner demographischen wie gesundheitspolitischen Bedeutung und in seinen gesellschaftlichen Auswirkungen neu betrachtet werden“, fordert Elisabeth Anselm, Geschäftsführerin des Hilfswerk Österreich. „Das wäre auch ein wichtiger Beitrag zur inhaltlichen Ausrichtung einer Reform des Pflegesystems, wie sie die Bundesregierung anstrebt“, so Anselm weiter.
Denn: „Je älter die Gesellschaft wird, desto weniger wird Demenz zum Einzelfall, sondern zum familiären Regelfall. Wir dürfen Demenz, Betroffene und Angehörige nicht in Sonderzonen verbannen oder verdrängen. Demenz spielt sich mitten in der Gesellschaft ab. Und so müssen wir ihr auch begegnen“, ist Anselm überzeugt.
„Vorzeigeprojekte und Modell-Initiativen sind wunderbar und wichtig. Sie eröffnen neue Möglichkeiten und Lernräume, sie erproben neue Praxis und entwickeln neue Qualitäten, sie illustrieren plastisch optimale Strukturen und Prozesse. Aber angesichts der Zahl von 130.000 Menschen mit Demenz in Österreich brauchen wir vor allem Angebote in der Fläche, die rasch und bedarfsgerecht die Lage für möglichst viele entschärfen“, fordert die Hilfswerk-Geschäftsführerin. Das bedeute, so Anselm, dass es mehr Ressourcen brauche für
nachhaltige Stärkung einschlägiger Kompetenzen im Bereich der Langzeitpflege
- Fortbildung, konsiliares und interdisziplinäres Arbeiten
- Unterstützung des Austauschs und der Selbsthilfe Betroffener und Angehöriger
- zugehende Beratungsangebote für Betroffene und Angehörige in den eigenen vier Wänden bzw. in der eigenen Lebenswelt (mobile Demenzberatung, konkrete Verbesserungen der Situation vor Ort)
- flächendeckenden Ausbau leistbarer mehrstündiger Tagesbetreuung zu Hause zur gezielten Entlastung und nachhaltigen Stärkung der Angehörigen (z. B. einen Nachmittag in der Woche „frei“ …)
- den Ausbau einschlägiger Angebote zur Kurzzeitpflege und von Tageszentren bzw. Fahrtendiensten
„Die Politik ist gefordert, den nötigen Rahmen zu gestalten, in dem qualitativ hochwertige Betreuung und Pflege insbesondere auch für Betroffene von Demenz und deren Angehörige möglich ist“, so Elisabeth Anselm abschließend.
Das Hilfswerk setzt bei seiner Jahresinitiative „Leben mit Demenz“ auf starke Partner wie die Erste Bank und Sparkassen sowie s Versicherung. Neuroth, Publicare und Allergosan unterstützen das Hilfswerk beim Fachschwerpunkt „Leben mit Demenz“. Partner des Hilfswerk Fachschwerpunktes „Spielen. Lernen. Bilden.“ sind Wiener Städtische und Jako-o.