Das Hilfswerk nimmt ein zentrales Element der projektierten Pflegereform in Augenschein. Fazit: Wer auf die erkannten Bedarfslagen antworten und die wahrgenommenen Lücken schließen will, muss ein erweitertes Verständnis von Hauskrankenpflege entwickeln und ein Modell des Community Nursing auf deren Kompetenzen aufbauen.
Das Pflege-Kapitel des türkis-grünen Regierungsprogramms nennt sie als eine zentrale Maßnahme zur Stärkung der Pflege und Betreuung zu Hause und zur Unterstützung pflegender Angehöriger: die „Community Nurse“, vorerst in 500 Gemeinden Österreichs geplant. Geht es nach Türkis und Grün sollen Community Nurses als wohnortnahe Ansprechpersonen fungieren und die bedarfsgerechte Unterstützung und pflegerische Versorgung der Betroffenen gewährleisten sowie das Thema Prävention für ältere Menschen (75 +) vorantreiben.
Doch was genau wird in der bisher diffusen Debatte um die Pflegereform mit „Community Nursing“ bezeichnet? Derzeit schwebt es wie die Projektion einer „Wundertüte“ durch den öffentlichen Diskurs und scheint die Erfüllung allzu vieler Wünsche und Hoffnungen zu versprechen: Pflege- und Betreuungsbedürftige sowie Angehörige erhoffen sich eine lokale Anlaufstelle sowie Information, Beratung, Unterstützung, Anleitung und laufende Begleitung durch eine bestimmte Person. Diplomierte Pflegekräfte erhoffen sich neue, attraktive (auch freiberufliche) Tätigkeitsfelder, desgleichen Sozialarbeiter/innen. Das Sozial- und Pflegesystem wünscht sich ebenso wie das Gesundheitssystem eine bedarfsgerechte Stärkung der jeweiligen Versorgungslandschaft. Während die Bundesregierung mit Community Nursing einen Meilenstein der Pflegereform stemmen will, bangen Länder und Gemeinden um verlässlich fließende finanzielle Mittel zur besseren Ausgestaltung ihrer Strukturen.
Community Nursing = Hauskrankenpflege
„Im internationalen Fachdiskurs entspricht Community Nursing genau jenen Tätigkeiten, die in Österreich unter Hauskrankenpflege subsummiert sind, meint also professionelle pflegerische Versorgung meist älterer Menschen zu Hause durch diplomiertes Gesundheits- und Krankenpflegepersonal sowie Pflegeassistenzberufe“, erläutert Elisabeth Anselm, Geschäftsführerin des Hilfswerk Österreich. Unter die Tätigkeiten von Hauskrankenpfleger/innen fallen beispielsweise auch Verbandwechsel, Injektionen, Medikamente, aufwändige Körperpflege, Aktivierung, Mobilisation, Vorbeugung, Information und Anleitung, Hilfestellung bei der Entlassung aus Krankenhaus oder Rehabilitation, Beratung und Unterstützung bei Pflegegeld- und Förderanträgen sowie bei der Auswahl und Organisation von Pflegehilfsmitteln. Die Hausbesuche erfolgen nach individuellem Bedarf einmal wöchentlich bis mehrmals täglich.
Die Hauskrankenpflege ist (nebst Heimhilfe) Teil der mobilen Dienste, die in Österreich rund 153.000 ältere und chronisch kranke Menschen zu Hause betreuen. Die mobilen Pflegedienste sind als flächendeckendes, wohnortnahes Versorgungsmodell konzipiert und werden hauptsächlich von gemeinnützigen Trägern im Auftrag der Länder erbracht. Letztere legen die sozial gestaffelten Tarife (Selbstbehalte) fest. Einen fundierten Überblick über die unterschiedlichen Pflegedienstleistungen finden Sie hier: hilfswerk.at/oesterreich/pflegekompass/dienstleistungen-im-ueberblick/
Community Health Nursing = Funktion in der Primärversorgung
Zur Begriffsverwirrung trägt auch die unscharfe bzw. falsch synonyme Verwendung der Begriffe Community Nursing und Community Health Nursing bei. Letzteres bezeichnet einen spezifischen Aufgabenbereich in der Primärversorgung, ist also in der Gesundheitsversorgung bzw. im Gesundheitssystem verortet. Der Fokus liegt auf der gesundheitlichen Versorgung chronisch kranker Menschen jeden Alters und reicht bis zur Übernahme hausärztlicher Tätigkeiten (Diseasemanagement). Ziel von Community Health Nursing ist die Sicherung und Entwicklung der regionalen Gesamtversorgung im Bereich Gesundheit, Pflege und Soziales. Für diese umfassende Kompetenz bedarf es nebst Diplom (Bachelor) eines viersemestrigen Masterstudiums.
Community Nursing: Orientierung am Bedarf aus Sicht der Pflegepraxis
In der pflegerischen Praxis zeigt sich, dass pflegebedürftige Menschen und ihre Angehörigen in folgenden Bereichen besondere Unterstützung benötigen:
- Beratung: vor bzw. bei Beginn des Pflegebedarfs sowie bei den laufenden Veränderungen der häuslichen Pflege- und Betreuungssituation
- Organisation und Koordination: Bedarfseinschätzung, Versorgungsplanung, Organisation und Koordination erforderlicher Leistungen, Case Management und Qualitätssicherung, Sicherung der Versorgungskontinuität, Schnittstellenmanagement zwischen Gesundheits- und Sozialsystem sowie Behörden
- Prävention: Förderung und bestmöglicher Erhalt von Gesundheitszustand, -kompetenz und Selbsthilfepotenzialen, Maßnahmen zur Vermeidung von Unfällen und psychosozialen Risiken sowie zur Vermeidung der Pflegebedürftigkeit, Unterstützung der Rehabilitation
„Wie obige Grafik zeigt, kann Community Nursing alias Hauskrankenpflege diese Bedarfspunkte kompetent auf regionaler Ebene abdecken, sofern dies im Leistungskatalog vorgesehen und damit finanziert ist. Wer auf die erkannten Bedarfslagen antworten und die wahrgenommenen Lücken schließen will, muss also ein erweitertes Verständnis von Hauskrankenpflege entwickeln und ein Modell des Community Nursing auf deren Kompetenzen aufbauen“, argumentiert Anselm. Denn Hauskrankenpflege
bietet ein flächendeckendes funktionierendes Versorgungsgefüge, insbesondere dank regional präsenter, verankerter und vernetzter Träger der Langzeitpflege.
- garantiert sofortige Verfügbarkeit, hat keine unnötigen Anlaufkosten.
- erzeugt keine Parallelstrukturen oder Doppelgleisigkeiten.
- Es entstehen keine unnötigen zusätzlichen Schnittstellen und keine weitere Segmentierung der Dienste.
- Hauskrankenpflege sorgt für einen synergetischen Einsatz des ohnehin spärlich vorhandenen Fachpersonals anstatt dessen Bindung in der „Verwaltung“ zu forcieren.
- Sie ermöglicht die Nutzung des organisatorischen und fachlichen Backups der Träger in der Hauskrankenpflege, z. B. umfassende Erreichbarkeit und Verfügbarkeit, Krankenstandsvertretung (auch kurzfristig), Urlaubsvertretung.
- Sie gewährleistet systematische Qualitätssicherung durch fachliche Einbettung (Kollegenschaft, Vorgesetzte), fachliche Fallbesprechung, konsiliares Arbeiten, fachliche/kollegiale Inter-/Supervision u. a.
Ein praktisches Umsetzungsbeispiel in einer durchschnittlichen Gemeinde
Eine österreichische Durchschnittsgemeinde: Von den 3.000 Bürger/innen sind 246 Personen älter als 75 Jahre. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie Pflegebedarf entwickeln, ist zunehmend gegeben. 570 Personen sind zwischen 65 und 75 Jahre alt, bei ihnen ist die Wahrscheinlichkeit hoch, Angehörige/r eines pflegebedürftigen Menschen zu sein. Es gibt kein Pflegeheim vor Ort, zwei Träger mobiler Dienste versorgen den Ort mit Hauskrankenpflege und Heimhilfe. Zwei Allgemeinmediziner, einer kurz vor der Pensionierung, ordinieren im Ort, Fachärzte gibt‘s in der Bezirksstadt.
Die Gemeinde will ihren älteren bzw. chronisch kranken Bürger/innen niederschwellige Informations-, Beratungs- und Anlaufstellen für alle Fragen rund um Alter und Pflege bieten. Außerdem sollen die Selbsthilfepotenziale älterer Menschen und der Zusammenhalt gegen „Alterseinsamkeit“ gestärkt werden. „Richtig verstandenes Community Nursing hat hier großes Lösungspotenzial“, sagt Monika Gugerell MSc, Pflegeexpertin im Hilfswerk Österreich, und skizziert eine mögliche Herangehensweise:
Die Gemeinde trifft mit den Trägern der regional tätigen mobilen Dienste nach einer Bedarfsanalyse eine Übereinkunft zur Umsetzung eines (erweiterten) „Community Nursing“. Die Träger setzen jeweils ausgewählte, fachlich, organisatorisch und lokal kompetente sowie beratungserfahrene Fachkräfte (Diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegepersonen bzw. „Community Nurses“) samt organisatorischem, fachlichem und personellem Backup ein.
Die „Communitiy Nurses“ kooperieren insbesondere mit den Allgemeinmedizinern im Ort, mit den regional tätigen Dienstleistern und Behörden im Gesundheits-, Sozial- und Pflegebereich sowie mit der Regionalbetreuung der „Gesunden Gemeinde“ und diversen Vereinen und Initiativen vor Ort. Zudem bieten die Community Nurses zweimal pro Woche Sprechstunden (z. B. „Pflegeberatung“) am Gemeindeamt an, besuchen sämtliche Gemeindebürger/innen ab 75 Jahren präventiv zuhause („aufsuchende Pflegeberatung“) und organisieren in monatlichem Rhythmus frei zugängliche Info-Veranstaltungen zu alters- und pflegerelevanten Themen.
Rahmenbedingungen für zielführendes Community Nursing
Monika Gugerell: „Grundvoraussetzung ist die Anerkennung der umfassenden Kompetenzen und bewährten Strukturen der Hauskrankenpflege als logische Basis, an der das Community Nursing anknüpft. Um die Versorgungsziele im Sinne der Betroffenen auf lokaler Ebene zu erreichen, braucht es einen adäquaten Förderrahmen, der es ermöglicht, den Leistungskatalog der Tätigkeiten der Hauskrankenpflege entsprechend zu erweitern und zu finanzieren. Schon heute wenden sich Menschen mit Beratungs-, Organisations- und Präventionsbedarf an uns. Für einen effizienten Mitteleinsatz müssen Leistungsumfang und Schnittstellen geklärt sowie Leitlinien festgelegt werden, z. B. eine trägerneutrale Beratung und die Einbindung des gesamten regionalen Angebots.“
Elisabeth Anselm verweist auf die im Regierungsprogramm festgeschriebene Pilotphase des Community Nursing und regt eine rasche Umsetzung samt anschließender Evaluierung an. „Auf deren Basis müssen die Kosten für eine Ausrollung des Community Nursing in ganz Österreich ermittelt werden. Außerdem wäre es dann an der Zeit, weiterführende Überlegungen anzustellen. Einerseits in Richtung Gesundheitssystem bzw. Primärversorgung und Community Health Nursing, andererseits in Richtung wohnortnaher Sozialraumlotsen mit besonderer Berücksichtigung sozialer Hilfestellungen unterschiedlicher Art.“
Eine Community Nurse macht noch keine Pflegereform
„So hilfreich und wirksam richtig aufgesetztes Community Nursing sein kann, so klar ist aber auch: Eine Pflegereform, die ihren Namen verdient, muss noch deutlich größere Brocken stemmen. Allen voran eine effektive, an validen Bedarfszahlen orientierte Personaloffensive. Denn was nutzen uns die schönsten Detailkonzepte, wenn wir zu wenig qualifizierte Leute haben, die sie in der Praxis umsetzen?“, fragt Elisabeth Anselm.
Von der Bundesregierung fordert sie einen Masterplan, der Fragen der Ausbildung, der Arbeitsmarktpolitik und die Verbesserung der Rahmenbedingungen für professionelle Pflegearbeit inkludiert. Auch das Pflegegeld müsste dringend auf neue Beine gestellt werden, insbesondere die Grundlagen und die Praxis der Einstufung, fordert Anselm. „Schließlich braucht es die von der großen Mehrheit der Bevölkerung gewünschte und volkswirtschaftlich sinnvolle Attraktivierung der Pflege und Betreuung zuhause und eine bedarfsorientierte Weiterentwicklung der Versorgungslandschaft, aber auch eine bessere Absicherung und Unterstützung pflegender Angehöriger“, so Anselm abschließend.