Heute vor genau einem Jahr hat der damalige Sozialminister Rudi Anschober die Pflegereform lanciert. Konkret passiert ist bisher wenig. Nicht nur die entscheidende Kernfrage des Personals, auch weitere Schlüsselthemen bleiben unberührt: die bessere Unterstützung pflegender Angehöriger, der bedarfsgerechte Ausbau der mobilen Dienste und die Mängelbeseitigung im Pflegegeldsystem. Dieser Stillstand erzeugt aberwitzige Selbstläufer. So plädieren Regierungsprogramm und politische Verantwortungsträger in Bund und Ländern beispielsweise für eine Stärkung der Pflege und Betreuung zu Hause, während Österreichs Pflegesystem nachweislich in die Gegenrichtung steuert.
Am 16. Juli 2020 ließ der damalige Sozial- und Pflegeminister Rudi Anschober mit einer OTS-Aussendung aufhorchen: „Heute beginnt die Pflegereform.“ Ein Blick auf die vergangenen zwölf Monate zeigt indessen: „Der Reformwind ist inzwischen kaum mehr als ein laues Lüftchen, die eingesetzte Taskforce Pflege entpuppt sich zunehmend als Taskfarce“, sagt Othmar Karas, Präsident des Hilfswerk Österreich.
Das sei vor allem bei der Personalproblematik, der Causa prima der Pflegereform, drastisch spürbar. Othmar Karas: „Hier fehlt nach wie vor ein Masterplan, es gibt noch immer viel zu wenige Ausbildungsmöglichkeiten, und jede Verschleppung verhindert, dass rechtzeitig neue Pflegekräfte in den Beruf eintreten. Wir müssen die Versorgungssicherheit gewährleisten. Es darf nicht so weit kommen, dass Pflegedienstleister in manchen Gegenden Österreichs gezwungen sind, Anfragen Pflegebedürftiger aus Personalgründen abzuweisen.“ Neben der Personalfrage gebe es eine Vielzahl weiterer brach liegender Aufgaben. „Darunter leiden vor allem die Menschen, die zu Hause betreut und gepflegt werden, und ihre Angehörigen“, so Karas. Das Hilfswerk nimmt deshalb einige der Reformbaustellen genauer unter die Lupe:
Stärkung der Pflege und Betreuung zu Hause
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2011 bis 2015 galt das Paradigma „mobil vor stationär“. Die mobile Pflege wuchs stärker als stationäre Einrichtungen. Dieser Trend verkehrte sich ab 2016 ins Gegenteil: Inzwischen ist allein der Ausgabenzuwachs (!) in der stationären Pflege größer als die Gesamtausgaben im mobilen Sektor (822 Mio. Euro gegenüber 669 Mio. Euro in den Jahren 2016 bis 2019). Die Abschaffung des Pflegeregresses für stationäre Einrichtungen im Jahr 2018 sorgt hier für zusätzlichen Schub. Die Kosten pro betreuter Person und Jahr zeigen deutlich, wie fatal diese Entwicklung volkswirtschaftlich ist: Über 35.000 Euro für die stationäre Pflege stehen knapp 4.400 Euro für die Versorgung mit Hauskrankenpflege und Heimhilfe gegenüber. Stationär gepflegt wurden in Österreich 2019 rund 96.000 Personen, mobil etwa 153.000 Personen.
Ein Turnaround dieser Entwicklung würde nach einer WIFO-Studie aus dem Jahr 2019 positive Effekte zeitigen. „Wer in den bedarfsgerechten Ausbau der Versorgung zu Hause investiert, drosselt das Tempo des wachsenden Personalbedarfs, senkt die Pflege- und Betreuungskosten und gewährleistet Versorgungssicherheit“, erläutert Hilfswerk-Geschäftsführerin Elisabeth Anselm. Sie verweist auf das Beispiel Dänemarks, wo seit 1987 keine Pflegeheime mehr gebaut werden. Stattdessen bekommen alle Einwohner/innen ab 75 Jahren präventive Hausbesuche, den Senior/innen wird ein breites Angebot an Alltagsunterstützung zu Hause geboten sowie ausreichend Seniorenwohnungen und Pflegewohnungen. Pflegebedürftige Menschen haben Anspruch auf Heimhilfe bis zu sechs Stunden täglich sowie auf ergänzende Hauskrankenpflege. „Ein Turnaround ist auch in Österreich machbar, wenn alle Gebietskörperschaften an einem Strang ziehen. Das wäre nicht nur volkswirtschaftlich sinnvoll, es würde vor allem dem Wunsch der überwältigenden Mehrheit der Betroffenen und Angehörigen entsprechen“, so Anselm.
Bedarfsgerechte Unterstützung pflegender Angehöriger
Pflegende Angehörige sind DIE tragende Säule der Langzeitpflege in Österreich. Rund 1 Million Menschen sind hierzulande in die Pflege und Betreuung einer angehörigen Person involviert oder nehmen diese Aufgabe alleine wahr. Wie anspruchsvoll diese Tätigkeit ist, zeigt eine Befragung des Sozialministeriums aus dem Jahr 2018: 30 Prozent der pflegenden Angehörigen geben an, dass ihre (psychische und/oder physische) Gesundheit darunter leidet, für rund die Hälfte ist die zeitliche Belastung groß bis sehr groß. Dies gilt vor allem für teilzeitbeschäftigte Angehörige. Pflegende Angehörige fühlen sich oft allein gelassen, knapp 30 Prozent auch finanziell stark belastet.
Vor diesem Hintergrund scheint die Anstellung pflegender Angehöriger verlockend. Dabei ist jedoch zu bedenken, dass diese Option Betroffenen im Pensionsalter gar nichts bringt. Für lediglich einen Drittel der Angehörigen könnte eine Anstellung bei Interesse theoretisch von Belang sein, eröffnet jedoch eine Fülle von Diskrepanzen – etwa betreffend das Arbeitsrecht, insbesondere die Arbeitszeitgesetzgebung. Das Zusammenleben mit einer/m pflegebedürftigen Angehörigen erzeugt eine verschränkte und schwankende Abfolge von Betreuungszeit im engeren Sinne und (oft miteinander verbrachter) Freizeit. Diese Situation lässt sich schwer in das Korsett von Normalarbeitszeit, Ruhezeit, Mehr-/Überstunden, Rufbereitschaft, Urlaubs- und Krankenstandsvertretung pressen. Auch betreffend Pflichten, Qualifikation und Haftung ergeben sich komplexe Fragen, die schwer zu lösen sind. Und im burgenländischen Modell ist die Bezahlung beispielsweise so geregelt, dass sich Betroffene ihre Anstellung durch vorherige Abgabe des Pflegegeldes und großer Teile der Pension quasi selbst bezahlen.
Ausbau der Versorgungslandschaft und faire Pflegegeld-Einstufung
Was pflegende Angehörige stattdessen brauchen? Dazu Anselm: „Mehr finanziellen Spielraum durch einen fairen Einstufungsprozess beim Pflegegeld. Großzügige und leistbare Unterstützung und Entlastung durch Dienste von außen wie zum Beispiel durch Hauskrankenpflege und Heimhilfe, aber auch durch mehrstündige Tagesbetreuung und qualitätsgesicherte 24-Stunden-Betreuung. Niederschwellige, wohnortnahe Information, Beratung, Anleitung und Unterstützung sowie eine bedarfsgerechtere Ausgestaltung von Pflegekarenz und Sozialversicherungsmöglichkeiten.“ Unterstützungsangebote wie Pflegekarenz und Pflegeteilzeit oder die Weiterführung der Kranken- und/oder Pensionsversicherung seien offenbar nicht bedarfsgerecht und attraktiv genug gestaltet. Pflegende Angehörige würden sich viel zu selten dazu entschließen, diese Angebote in Anspruch zu nehmen oder hätten gar keinen Anspruch darauf. So standen 2019 236.501 Personen, die Pflegegeld ab Stufe 3 beziehen, lediglich 3.267 Nutzer/innen von Pflegekarenzgeldern (= 1,38 Prozent) gegenüber, in lediglich 2,6 Prozent der Karenzfälle wurde Pflegeteilzeit vereinbart und nur 3,83 Prozent der pflegenden Angehörigen nahmen die Möglichkeit einer begünstigten Pensionsversicherung wahr. „Diese geringe Inanspruchnahme müssen wir als Indiz für eine zu geringe Attraktivität und als Aufforderung zu einer sorgfältigen Angebotsprüfung werten“, so Anselm.
Auch der Pflegegeld-Einstufungsprozess bedarf einer Überprüfung: Heute führen mehr als 50 Prozent der Pflegegeldklagen per Gerichtsentscheid zu einer höheren Einstufung. Die falsche Einstufung trifft in besonderem Maß auf Menschen zu, die im häuslichen Umfeld begutachtet werden und für die das Pflegegeld von größter Bedeutung ist. Es ermöglicht, mobile Dienste, unterstützende Sachleistungen, Pflegehilfsmittel usw. in Anspruch zu nehmen und ist vielfach entscheidend dafür, ob die häusliche Pflege- und Betreuungssituation aufrechterhalten werden kann oder nicht. Genau bei diesen Menschen folgt die Einstufung einem problematischen Ablauf: Während Personen in Pflegeheimen bei der Begutachtung von professionellen Pflegekräften begleitet werden, müssen Pflegebedürftige und Angehörige zuhause ohne fachliche Unterstützung zurechtkommen. Als „Laien“ sind sie vielfach nicht ausreichend vorbereitet und von den Fragestellungen häufig überfordert. Betroffene bzw. Angehörige beschönigen die Situation aus Scham und verfälschen so unfreiwillig das Ergebnis der Begutachtung.
„Vor uns liegen zahlreiche Handlungsfelder, die nun mehr als rasch angepackt werden müssen, wenn wir eine menschenwürdige Pflege in Österreich sicherstellen wollen“, sagt Othmar Karas und führt fort: „Eine Pflegereform ist nur im Miteinander von Bund UND Ländern umsetzbar, aber nicht, wenn ein Player erste Reihe fußfrei zusieht, was der andere zuwege bringt. Die pflegebedürftigen Menschen in diesem Land und ihre Angehörigen haben sich ein Ende des Stillstands verdient“, so der Hilfswerk-Präsident abschließend.