Gesperrte Betten in Spitälern und Pflegeheimen, Wartelisten in der Hauskrankenpflege – der Personalmangel in der Pflege zeitigt reale Effekte in der Versorgung. „Ausbaden müssen das pflegebedürftige Menschen, ihre Angehörigen sowie die Beschäftigten im Pflegesektor. Letztere müssen sich mit der Verzweiflung und dem Unmut von Betroffenen und Angehörigen auseinandersetzen, die sie bei der Suche nach einem Pflegeangebot vertrösten müssen. Ihr großer Wunsch lautet: mehr Kolleginnen und Kollegen! Für das Hilfswerk ist klar: Ohne wirksame Lösungen zur Behebung des Personalmangels bleibt die Pflegereform Makulatur. Ohne Pflegekräfte keine Pflege!“, umreißt Hilfswerk-Präsident Othmar Karas die dramatische Personalsituation. Zugleich räumt Karas mit dem gängigen Vorurteil auf, die Berufsbilder in der Pflege seien schlicht zu unattraktiv. „Der Zulauf in die Pflegeberufe widerlegt das eindeutig. Kaum eine andere Branche hatte in den letzten Jahren einen derartigen Beschäftigungszuwachs. Nur wächst der Bedarf wegen der demografischen Entwicklung und bevorstehender Pensionierungswellen ungleich stärker“, so Karas.
Was ist zu tun? Wen muss eine Pflegeausbildung ansprechen?
Junge Interessierte besser abholen, Pflegeausbildung „normalisieren“
Ein Überblick über das derzeitige Ausbildungssystem [siehe Grafik unter > Download Präsentation und Grafiken > Ausbildungssystem] zeigt, dass Lücken und Hürden jungen Interessierten den Weg in den Beruf erschweren. So fehlt etwa ein Anschluss nach der Pflichtschule. Eine Ausbildung an einer Gesundheits- und Krankenpflegeschule kann erst mit 17 Jahren aufgenommen werden, die Ausbildung für die Diplomierte Gesundheits- und Krankenpflege ist mittlerweile tertiär. Eine duale Ausbildung (Lehre als Einstieg in das Berufsfeld) ist zwar im Regierungsprogramm vorgesehen, lässt aber auf sich warten. In Berufsbildenden Schulen erschöpft sich das Angebot aktuell in Pilotversuchen privater (konfessioneller) Träger an sechs Standorten in Österreich. Dabei bräuchte es laut Hilfswerk dringend eine Ausrollung von BMS undE BHS für Gesundheits- und Sozialberufe im öffentlichen Regelschulwesen. „Wer sich bereits nach der Pflichtschule für Gesundheits- und Sozialberufe interessiert, muss eine Wartezeit überbrücken und dann eine Knock-Out-Prüfung mit ungewissem Ausgang absolvieren. Das ist eine Vergeudung von Lebenszeit“, kritisiert Elisabeth Anselm, Geschäftsführerin des Hilfswerk Österreich. Deshalb fordert das Hilfswerk mehr Durchlässigkeit des Ausbildungssystems. Ebenso direkten Anschluss an die Pflichtschule durch ein flächendeckendes Angebot an Berufsbildenden Schulen (BMS/BHS) an hundert Standorten in Österreich, mit bis zu 2.500 Absolvent/innen jährlich. „Es muss so normal wie möglich werden, in einen Gesundheits- und Sozialberuf zu gehen“, fordert Anselm. Außerdem sieht das Hilfswerk die Etablierung einer dualen Berufsausbildung mit altersadäquat gestalteten Curricula, Ausbildungsformaten und Regelwerken durchaus positiv.
Markus Golla, Leiter des Instituts für Pflegewissenschaft sowie Studiengangsleiter Gesundheits- & Krankenpflege an der IMC FH Krems, ist überzeugt, dass man auch über die ökonomische Seite der Ausbildung nachdenken muss. Ein „Taschengeld“ zwischen 100,- und 400,- Euro pro Monat und in der Regel unbezahlte Pflichtpraktika seien nicht gerade ein Anreiz. „Fehlt die finanzielle Unterstützung der Eltern, müssen Auszubildende einer beruflichen Tätigkeit zur Deckung des Lebensunterhalts nachgehen. Diese Doppelbelastung ist ein wesentlicher Drop-Out-Faktor“, weiß Golla. Für Studierende an Fachhochschulen gäbe es zwar Stipendien. Doch nur jede/r achte Studierende kann sie in Anspruch nehmen. Denn: „Die Einkommensgrenzen der Eltern sind nicht angehoben worden, die Alterslimits bei Stipendien sind für Späteinsteiger zu niedrig. Mitunter müssen Student/innen das Studium, ein unbezahltes Praktikum und einen Brotjob unter einen Hut bringen. Das ist angesichts der Personalsituation in der Pflege schlicht unvernünftig“, ärgert sich Golla. Das Hilfswerk fordert deshalb die Übernahme der Ausbildungskosten und die Sicherung des Lebensunterhalts analog zum durchaus erfolgreichen Modell in der Polizeiausbildung.
Es brauche ein entsprechend bemessenes Pflegeausbildungsstipendium für Auszubildende an Gesundheits- und Krankenpflegeschulen, Fachhochschulen und in Kursen von Ausbildungsträgern (wie bfi und WIFI) in der Höhe von 1.000 bis 1.200,- Euro pro Monat. Damit wären laut Hilfswerk auch die Praktika abgedeckt. Um Betriebe für die wachsende Zahl an Praktikant/innen sowie deren berechtigte Ansprüche zu rüsten und sie zu bestmöglichen Verbündeten im Ausbildungssystem zu machen, ist es laut Hilfswerk nötig, Ausbildungsplätze für Praxisanleiter/innen bereitzustellen. Ausbildungs- und Freistellungskosten seien abzudecken, dasselbe gelte für die Tätigkeit der Praxisanleiter/innen. „Ein gelingendes Praktikum ist ein entscheidender Schlüsselfaktor für den weiteren Verlauf der Ausbildung und Berufslaufbahn“, sagt Golla.
Wiedereinsteiger/innen und Menschen in der beruflichen Neuorientierung unterstützen
Mit dem Fachkräftestipendium bietet das AMS interessierten arbeitslosen Menschen eine attraktive Möglichkeit, in Pflegeberufe einzusteigen. Dabei werden Kosten für Lebensunterhalt und Ausbildung vom AMS getragen. Leider unterstütze das Fachkräftestipendium keine Weiterbildung im tertiären Sektor. „Das bedeutet, dass aufgrund des geplanten Auslaufens der Diplomausbildung an den Gesundheits- und Krankenpflegeschulen 2024 sowie ihrer Tertiärisierug kein geförderter Einstieg in eine Ausbildung zum gehobenen Dienst offensteht. Also just in jene Berufsgruppe des Pflegesektors, in der der Personalmangel am gravierendsten ist“, erläutert Anselm. Für Menschen, die nicht arbeitslos sind, aber eine berufliche Neuorientierung suchen und den Berufsumstieg wagen möchten, gibt es derzeit überhaupt kein adäquates Angebot. Die Bildungskarenz komme vor dem Hintergrund des Personalmangels nicht in Frage, die Bildungsteilzeit führe zu allzu großen Einkommenseinbußen. Ähnlich ist die Lage für Menschen die sich aus einem Pflegeberuf heraus weiter qualifizieren möchten.
Das Hilfswerk fordert deshalb den Ausbau bestehender Weiterbildungsangebote samt Ausweitung des Kreises der Anspruchsberechtigten. Die Diplomausbildung an einer Fachhochschule soll im Rahmen des Fachkräftestipendiums ebenfalls möglich sein. Auch dann, wenn Arbeitslose bereits über eine tertiäre Ausbildung verfügen. Für Berufsumsteiger/innen und Menschen, die sich im Beruf höher qualifizieren wollen, schlägt das Hilfswerk ein Qualifizierungsstipendium vor. „Es ist zutiefst bedauerlich, wenn wir interessierte Umsteiger/innen aus finanziellen Gründen verlieren“, meint Anselm. Auch für Menschen mit Qualifikationsinteressen, die bereits im Pflege- und Betreuungsberuf stehen, wäre diese Form der Unterstützung höchst zielführend, meint Anselm: „Qualifizierungsmöglichkeiten und Fachkarrieren halten diese Menschen im Beruf und geben ihnen Perspektiven.“ Es brauche daher berufsbegleitende, regional verfügbare und aufeinander abgestimmte Fortbildungsangebote für Beschäftigte. Auch in der Rückgewinnung von Wiedereinsteiger/innen sieht das Hilfswerk eine Chance. „Wir müssen diese Fachkräfte aktiv einladen, über den Wiedereinstieg und aktuelle Perspektiven informieren, ihnen aber auch Angebote zur Auffrischung ihres Wissens über relevante Entwicklungen machen – etwa durch kostenlose Wiedereinstiegskurse“, skizziert Anselm ein mögliches Vorgehen. Es fehle an einer Gesamtstrategie für die Rückholung dieser wichtigen Gruppe.
Anerkennung und Integration von Fachkräften aus dem Ausland verbessern
Insbesondere qualifizierte ausländische Pflegekräfte, die in Österreich arbeiten wollen, sehen sich auf ihrem Weg in den Job mit zahlreichen Herausforderungen und Hindernissen konfrontiert. So stellt sich etwa das Verfahren zur Berufsanerkennung (Nostrifikation) als zeitaufwändig, bürokratisch und teuer dar. Erforderliche Ergänzungskurse sind ebenfalls teuer und selten rasch verfügbar. Die erwerbslose Wartezeit verzögert wiederum den Aufenthaltstitel (Rot-Weiß-Rot-Card), der ein gesichertes Einkommen voraussetzt. Das Hilfswerk fordert eine reflektierte strategische Vorgangsweise Österreichs bei der Gewinnung von Pflegefachkräften aus dem Ausland. Andere Länder wie Deutschland, Großbritannien oder die Schweiz seien längst international engagiert, hätten die Einbürgerungs- bzw. Nostrifikationsprozesse vereinfacht, die Bearbeitungszeiten mittels One-Stop-Shop-Prinzips reduziert. Zur Sicherung des Lebensunterhalts sollten die Pflegekräfte schon während der Nostrifikationsphase arbeiten dürfen (Vorbild Pandemieparagraph).
Personalbedarf und notwendige Ausbildungskapazitäten unterschätzt
Die Gesundheit Österreich GmbH (GÖG) hat ihre 2017 erstmals publizierten Personalbedarfszahlen, wonach Österreich bis 2030 über rund 75.700 Pflegepersonen mehr benötige, mittlerweile auf über 90.900 Kräfte revidiert. Der Grund liegt darin, dass das inzwischen etablierte Gesundheitsberuferegister einen höheren Personalbestand ausweist, als ursprünglich angenommen. (Dennoch werden dadurch etliche Fachkräfte, die außerhalb des klassischen Gesundheits- und Pflegewesens arbeiten, nicht mitgezählt.) Ersetzt man überdies die Annahme einer Verweildauer im System bis zur Pensionierung durch entsprechende Fluktuationsziffern und „preist“ die bereits aktuell gegebene Unterbesetzung (dauerhaft offenen Stellen) „ein“, steigt der Bedarf nochmals erheblich.
Dasselbe gilt für den Fall, dass man eine realistische Drop-out-Rate während der Ausbildung berücksichtigt. Aber auch die rechnerische Integration von Innovationen wie der Umsetzung des Community-Nursing-Modells, das die Regierung angestoßen hat, oder eine qualitative Verbesserung der Versorgungslandschaft erfordern Anpassungen. Bei geschätzten knapp 5.000 jährlichen Absolvent/innen der Pflegeausbildung zwischen 2022 und 2030 ergibt sich – je nach Jahr – ein Mehrbedarf zwischen 1.810 und 4.280 Absolvent/innen, d. h. zwischen 35 und 90 Prozent!
Es braucht einen Plan, Kraft und Mut – sowie das notwendige Budget!
Hilfswerk-Präsident Karas fordert nun endlich Taten, um dem Personalmangel beherzt entgegen zu treten: „Die Beschäftigten im Sektor haben sich – ebenso wie die pflegebedürftigen Menschen und deren Angehörige – endlich eine Reform verdient. Die anstehenden Herausforderungen benötigen einen nationalen Kraftakt! Für die Personalfrage – die Schlüsselfrage der Pflegereform – brauchen wir einen klaren Plan statt Blindflug und Stückwerk! Wir brauchen Kraft statt Zögerlichkeiten und Kompetenzgerangel zwischen Bund und Ländern. Die Zielsteuerung zur Pflegereform muss endlich eingesetzt werden. Und wir brauchen Mut statt ewiger Beschönigungen. Das heißt klare Analysen, plausible Konzepte, konsequente Maßnahmen und ebenso realistische wie tragfähige Kostenpfade und Budgetpläne!“ Die 50 Millionen jährlich, die das Bundesbudget derzeit zusätzlich für drei Jahre ausweise, seien vom anzunehmenden Finanzierungserfordernis jedenfalls weit entfernt, so Karas.