Wer eine echte Pflegereform auf die lange Bank schiebt, gefährdet die pflegerische Versorgung in Österreich. Schon in den nächsten Jahren spitzen sich die Herausforderungen massiv zu, punktuelle Reparaturmaßnahmen können den ganzheitlichen Reformbedarf nicht verschleiern. Das Hilfswerk Österreich fordert einen Runden Tisch, um die Weichen für ein künftiges Pflegesystem zu stellen, das bedarfsgerecht, leistungsfähig und fair ist. Denn auch in der Pflege muss gelten: Gleiche Leistung für gleiches Geld!
In ihrem aktuellen Programm bekennt sich die Bundesregierung dazu, „Pflege und Betreuung (…) für alle Menschen in Österreich in bestmöglicher Qualität nachhaltig sicherzustellen“. Möglich wird dies nur, wenn eine echte Reform rasch in Angriff genommen wird. MEP Dr. Othmar Karas, Präsident des Hilfswerk Österreich umreißt die zentralen Handlungsfelder: „Eine echte Reform muss klare Antworten auf drei Ebenen bringen: Wie wird eine nachhaltige Finanzierung der Pflege sichergestellt? Wie wird die Versorgungslandschaft bedarfsgerecht und innovativ, mit nachvollziehbaren Standards, fairen Selbstbehalten und volkswirtschaftlicher Vernunft weiterentwickelt? Wie begegnet man dem Personalnotstand in der Pflege, der sich in den kommenden Jahren noch verschärfen wird?“
Brennpunkt „Personal“
Realistische Ausbildungsoffensive starten! Rahmenbedingungen verbessern!
„Das Personalthema schwebt wie ein Damoklesschwert über dem gesamten Pflegesystem und duldet keinen Aufschub!“, betont Othmar Karas. Der Arbeitsmarkt hat bereits heute mit Personalmangel zu kämpfen, vor allem im gehobenen Dienst der Gesundheits- und Krankenpflege (diplomiertes Pflegepersonal), und hier insbesondere im Bereich der Langzeitpflege und bei den mobilen Diensten. Aktuell sind alleine beim Hilfswerk 256 Stellen offen. Was kann bzw. muss nun aber gegen die Personalnot in der Pflege getan werden?
In einem ersten Schritt ist eine differenzierte Bedarfserfassung und -prognose für die einzelnen Berufsgruppen nötig. Denn derzeit liegen keine validen Daten vor, die den Pflegepersonalbedarf differenziert nach Berufsgruppen, orientiert am wachsenden Bedarf und einem evidenzbasierten „Skill and Grade Mix“ in den nächsten 20, 30 oder 50 Jahren beschreiben.
Auf Basis realistischer Prognosen braucht es rasch eine differenzierte Ausbildungsoffensive. Sie muss sich klar am praktischen Bedarf orientieren. Und sie muss unterschiedliche Ausbildungsschienen – von der Hochschule bis hin zu Ausbildungen mit starkem Praxisbezug und niederschwelligem Einstieg – umfassen. Die GuKG-Novelle 2016 hat einen Fokus auf die Ausdifferenzierung, aber auch Eingliederung der Pflegeberufe in den tertiären Bildungssektor gelegt. In Anbetracht der Personalszenarien muss aber auch die Einführung eines Lehrberufs Pflege geprüft werden, wie er in der Schweiz bereits erfolgreich angeboten wird. Je breiter die Zubringerlandschaft in der Ausbildung ist, je selbstverständlicher sie im Bildungswesen verankert ist, umso besser sind die Chancen, genügend engagierte Interessentinnen und Interessenten zu gewinnen und so dem drängenden Bedarf gerecht zu werden.
„Gleichzeitig müssen die Rahmenbedingungen für die Arbeit in der Pflege insgesamt verbessert werden“, fordert Elisabeth Anselm. Dafür braucht es adäquate Personalschlüssel und eine realistische zeitliche Bemessung unterschiedlicher Pflege- und Betreuungstätigkeiten. Noch besser wäre laut Anselm eine konsequente Ergebnisorientierung in der Pflege und Betreuung: „Letztlich geht es darum, dass Betroffene fachgerecht und zu ihrer Zufriedenheit umsorgt und die Angehörigen effektiv entlastet werden. Es geht nicht um überbordende Bürokratie, detailfreudige Vorschriften und mehrgleisige Dokumentation.“ Andererseits sind zügig Maßnahmen für eine faire Bezahlung in Pflegeberufen zu setzen. Gehaltsunterschiede zwischen öffentlichen und privaten Arbeitgebern bzw. zwischen stationärem und nicht-stationärem Bereich, wie sie in einigen Bundesländern gang und gäbe sind, müssen ausgeglichen werden. „Und schließlich brauchen wir Finanzierungssätze, die einen fachlichen Austausch und eine gute Abstimmung in den Pflegeteams einschließen. Das sind wir den engagierten Frauen und Männern schuldig, die sich dieser sinnvollen, aber fordernden Aufgabe stellen“, meint Anselm.
Brennpunkt „Versorgungslandschaft“
Bedarfsgerechtigkeit herstellen! Pflege zu Hause stärken!
Ein Beispiel aus der Praxis. Ein Ehepaar: Sie ist 80 Jahre alt, Arthrose und die damit verbundene Bewegungseinschränkung beeinflussen ihren Gesundheitszustand. Sie hat noch keinen Anspruch auf Pflegegeld. Ihr Mann ist 85 Jahre alt. Als typischer Diabetes-Patient mit Gefäß-Wundheilungsstörungen laboriert er an einer schwer schließbaren, chronischen Wunde am Schienbein. Zusätzlich leidet er an Demenz. Derzeit erhält er Pflegegeld der Stufe 4. Beide leben alleine in ihrem Eigenheim. Die 55-jährige Tochter wohnt im gleichen Ort, ist berufstätig und unterstützt ihre Eltern regelmäßig bei der Verrichtung von Alltagstätigkeiten. Als die Demenz ihres Mannes langsam voranschreitet, fühlt sich die Ehefrau überfordert, weil die Entwicklung der Demenz eine erhöhte Selbst- und Fremdgefährdung mit sich bringt.
Die Familie beschließt, professionelle Pflege in Form eines mobilen Pflegedienstes hinzuzuziehen. Die Pflegeberatung des regionalen Anbieters empfiehlt eine Heimhilfe zur Unterstützung bei Alltagstätigkeiten sowie eine Hauskrankenpflege, u.a. zur Wundversorgung sowie Insulin- und Medikamentenmanagement. Zusätzlich wünscht sich die Ehefrau, ein- bis zweimal pro Woche für ein paar Stunden unbesorgt das Haus verlassen zu können. Doch das Angebot einer mehrstündigen Tagesbetreuung zu Hause zur Entlastung pflegender Angehöriger gibt es in ihrer Heimatregion nicht.
Nach einigen Monaten stößt die Ehefrau aufgrund der Situation an ihre körperlichen und psychischen Grenzen und gibt schließlich auf. Sie beschließt, ihren Mann künftig in einem Pflegeheim versorgen zu lassen. Das müsste sie nicht, gäbe es die Möglichkeit einer mehrstündigen Tagesbetreuung für ihren Gatten. In einem breiter angelegten mobilen Pflege- und Betreuungssetting wäre die Betreuung und Pflege zuhause noch mehrere Monate, im Idealfall sogar einige Jahre machbar.
„Das österreichische Pflegesystem ist für Fälle wie den zuvor beschriebenen zu holzschnittartig ausgelegt: Reichen die Pflege durch Angehörige bzw. das verfügbare Angebot, das mobile Dienste derzeit bieten können, nicht aus, ‚kippen‘ Betroffene in das nächsthöhere, versorgungs- und kostenintensivere Pflegesetting“, erläutert Elisabeth Anselm, Geschäftsführerin des Hilfswerk Österreich.
Hier umzudenken, entspricht den Wünschen der zu Pflegenden und ihren Angehörigen – und ist auch aus Sicht der Staatsfinanzen sinnvoll: Pflege zuhause – durch mobile Dienste allein oder gemeinsam mit Angehörigen – ist volkswirtschaftlich die mit Abstand günstigste Variante. Ein Pflegeheimplatz kostet im Durchschnitt 34.600 Euro pro Kopf und Jahr, während mobile Dienste mit durchschnittlich 4.200 Euro pro Kopf und Jahr zu Buche schlagen.
(Grafik: 2016 Brutto-Kosten Pflegemodelle pro Person und Jahr_DELTA)
Der zu pflegende Mann könnte mit der passenden Unterstützung durchaus in seinen eigenen vier Wänden und bei seiner Ehefrau wohnen bleiben. „Doch die dafür notwendigen Angebote – mehrstündigen Tagesbetreuung zu Hause zur Entlastung pflegender Angehöriger, Beratungen und Coachings für pflegende Angehörige, Besuchsdienste, mobile Physio- und Ergotherapie – fehlen in vielen Regionen Österreichs, zusätzlich kämpfen alle Pflegedienstleister mit einer eklatanten Personalknappheit“, so Elisabeth Anselm.
Es braucht innovative Versorgungskonzepte für die Pflege zu Hause. Eine möglichst breite Palette an Angeboten sowie eine individuelle, alle Möglichkeiten einbeziehende Pflegeberatung (im besten Falle bereits vor Eintritt eines Pflegebedarfs!) stellt sicher, dass Betroffene und ihre Angehörigen die jeweils für sie passende und richtige Unterstützung bekommen. Je differenzierter und bedarfsgerechter das Pflegesystem gestaltet ist, umso effektiver lässt sich auch eine Versorgung sicherstellen: „Reicht die Pflege durch Angehörige in Verbindung mit einer Heimhilfe nicht mehr aus, ist es eben nicht der nächste logische Schritt, ins Pflegeheim zu gehen“, betont Elisabeth Anselm. „Mit einem differenzierten, in der Intensität ansteigenden Pflegeangebot ist es auch für Menschen in höheren Pflegestufen möglich, weiterhin in den eigenen vier Wänden zu leben – ohne ständig das Gefühl haben zu müssen, ihren Angehörigen zur Last zu fallen.“
84 Prozent aller pflegebedürftigen Menschen in Österreich werden aktuell zuhause betreut – der Großteil von Angehörigen (45 Prozent), gefolgt von mobilen Diensten (32 Prozent). 5,2 Prozent nutzen eine 24-Stunden-Betreuung.
In den vergangenen Jahren wurden die politischen Bekenntnisse zur Stärkung der Pflege zuhause und zum Ausbau mobiler Dienst mehrfach wiederholt. Die dafür notwenigen finanziellen Investitionen liegen jedoch zurück. Stattdessen pumpen Bund und Länder weiterhin erheblich mehr Mittel in stationäre Dienste, die teuerste Form der Pflege. Zwischen 2011 und 2016 stiegen die Bruttoausgaben für stationäre Dienste um 400,9 Millionen Euro (plus 18,4 %), jene für mobile Dienste um 126,2 Millionen Euro (plus 25,8 %). Im selben Zeitraum stieg die Zahl der betreuten Personen in stationären Einrichtungen um 3,3 Prozent (plus 2.413 Personen), die Zahl jener, die durch mobile Dienste betreut werden, dagegen um 19,3 Prozent (plus 23.777 Personen).
(Grafik: 2011 bis 2016 Ausgabensteigerungen Mob und Stat)
„Wer dem steigenden Pflegebedarf mit nachhaltigen Strategien begegnen will, muss konsequent auf mobile Pflege- und Betreuungsdienste und auf eine wirksame und innovative Stärkung der Pflege zu Hause setzen und diese ausbauen – denn hier liegt die größte Hebelwirkung im Pflegesystem“, betont Othmar Karas, und fährt fort: „Der Entfall des Regresses bei der stationären Pflege wird uns im schlimmsten Fall pro Jahr so viel kosten wie alle mobilen Pflege- und Betreuungsangebote in Österreich zusammen. Mir scheint, es dämmert langsam auch den Verantwortlichen, dass hier der zweite Schritt vor dem ersten gesetzt wurde!“
Mit der Abschaffung des Pflegeregresses wurde die Pflege zu Hause signifikant benachteiligt: Durch den Wegfall des Regresses kommt nun der Staat für die Kosten auf, die über den Selbstkostenanteil (80 Prozent der Pension) hinausgehen. Die Kosten, die den Betroffenen in der Pflege zu Hause durch Pflegedienstleistungen entstehen, sind dagegen nach oben hin nicht gedeckelt. „Diese falschen Lenkungseffekte müssen umgehend aufgehoben werden! Pflegebedürftige mit der Finanzierung der Pflege nicht zu überfordern ist begrüßenswert – doch muss dies für alle Pflegesettings gelten. Ansonsten wird die Frage der Leistbarkeit zum alleinigen Kriterium bei der Pflegewahl“, sagt Othmar Karas und verdeutlicht: „Wer mobile Pflege in Anspruch nimmt, darf finanziell nicht schlechter aussteigen, als jemand, der ins Heim geht!“
Was passiert, wenn nichts passiert?
1.240 zusätzliche Heime bis 2050, alte Ungerechtigkeiten bleiben bestehen
Bleibt die Politik bei der volkswirtschaftlich nicht nachvollziehbaren Priorisierung der stationären Pflege, droht ein baldiger Systemkollaps. Blicken wir kurz in die nicht allzu ferne Zukunft: Im Jahr 2050 werden laut Berechnungen des WIFO 750.000 Personen Pflegegeld beziehen – rund 300.000 mehr als heute (WIFO, Österreich 2025, Juni 2017 – die Studie wurde vor Abschaffung des Pflegeregresses durchgeführt). Geht man davon aus, dass die Betreuungsstruktur im österreichischen Pflegesystem so bleibt, wie sie heute ist, und keine politische Reformen gesetzt werden, müssten im Jahr 2050, demografische und gesellschaftliche Entwicklungen eingerechnet, rund 184.000 Menschen in Pflegeheimen versorgt werden, so das WIFO. Derzeit gibt es in Österreich rund 850 Alten- und Pflegeheime mit insgesamt rund 75.000 Plätzen (Quelle: www.nqz-austria.at).
Bis 2050 müssten demnach rund 109.000 zusätzliche Plätze geschaffen bzw. 1.240 zusätzliche Heime gebaut werden. Angesichts der Zahlen und der bereits heute spürbaren Personalknappheit in Pflegeberufen ein Szenario, das wenig realistisch erscheint. „Natürlich ist die stationäre Pflege für besonders pflegebedürftige Menschen die beste und einzig sinnvolle Form der Pflege“, so Anselm. „Trotzdem muss uns bewusst sein, dass die Mehrheit der Pflegebedürftigen in den eigenen vier Wänden versorgt wird. Das entspricht auch dem Wunsch der Menschen und ist aus volkswirtschaftlicher Sicht plausibel. Daher braucht es jetzt Maßnahmen, die der österreichischen Pflegerealität gerecht werden.“
Pflege wird in Österreich über Steuern finanziert. Die Steuerpflicht betrifft alle Österreicher/innen unabhängig vom Wohnort. Dennoch ist es in der Pflege je nach Bundesland höchst unterschiedlich, welche Pflegeleistungen zur Verfügung stehen. Auch die Eigenbeiträge für die zu Pflegenden und ihre Angehörigen sind unterschiedlich hoch (siehe dazu die Hilfswerk-Medieninformation vom 4. Juni 2018 „Wie fair ist Österreichs Pflegesystem?“).
„Ein steuerfinanziertes System kann nicht so angelegt sein, dass es Bürgerinnen und Bürger je nach Wohnort ungleich behandelt! Im Sinne der Gerechtigkeit und der Steuerwahrheit schuldet die Regierung den Österreicherinnen und Österreichern faire, weil vergleichbare Pflegeleistungen und Selbsbehalte! Und sollte man an ein versicherungsfinanziertes System denken, dann gilt das genauso“, so Karas.
Runder Tisch für die Pflege!
Bedarfsgerechtes, leistungsfähiges und faires Pflegesystems
Eine Gesamtreform für ein bedarfsgerechtes, leistungsfähiges und faires Pflegesystem muss auf folgenden Grundsätzen basieren:
- Die positiven Ressourcen Betroffener und Angehöriger müssen anerkannt, gestärkt und bestmöglich unterstützt werden – insbesondere mit Blick auf die häusliche Pflege und Betreuung, aber auch auf Prävention.
- Ein zeitgemäßes Pflegesystem bietet ein Portfolio differenzierter, in ihrer Intensität ansteigender Pflegeleistungen.
- Österreichweit harmonisierte Versorgungsstandards nach evidenzbasierten Kriterien sind für ein faires System unabdingbar. Es braucht rasch mehr Vergleichbarkeit und Transparenz bei Leistungen und Eigenbeiträge.
- Eine Ausbildungsoffensive für Pflegeberufe und verbesserte Rahmenbedingungen sowie faire Entlohnung für die Arbeit in der Pflege und Betreuung sind Gebote der Stunde.
Wer den Kollaps verhindern will, muss die dringend notwendige Gesamtreform der Pflege in Österreich rasch angehen. Ein erster Schritt wäre es, die Verantwortungsträger/innen aller Ebenen (Bund, Länder, Gemeinden) sowie Expertinnen und Experten aus der Pflegepraxis, aus Demographie und Volkswirtschaft an einen runden Tisch zu holen, an dem ohne Tabus und Scheuklappen an einem nachhaltigen Pflegesystem der Zukunft gearbeitet wird. Othmar Karas abschließend: „Frau Bundesministerin Hartinger-Klein, Herr Bundesminister Löger – wir warten auf Ihre Einladung zu einem Runden Tisch!“