Martina Genser-Medlitsch, fachliche Leitung des Bereichs Kinder, Jugend, Familie und psychosoziale Dienste beim Hilfswerk, berichtet aus der Praxis: „Wir beobachten bei Kindern immer öfter, dass sie zu wenig Zeit und Raum haben, um einfach selbstbestimmt und frei zu spielen. Manche Kinder kennen das Gefühl der Langeweile nicht mehr, sind unausgeglichen, unkonzentriert, unsicher in ihrer Körperwahrnehmung und Selbsteinschätzung. Mögliche Anzeichen dafür, dass es Eltern – in bester Absicht – zu gut meinen und ihr Kind mit einer ‚Überförderung’ überfordern.“
Das Hilfswerk bricht daher eine Lanze für das ungezwungene, freie Spielen der Kinder. „Für die Erwachsenen heißt das, sich in achtsamer Gelassenheit auch einmal zurückzulehnen und Vertrauen in die Potenziale der Kinder zu haben. Das erfordert Mut bei Eltern und Erziehenden“, so Martina Genser-Medlitsch.
Im Rahmen des Hilfswerk-Fachschwerpunkts Spielen. Lernen. Bilden. setzt das Hilfswerk verschiedene Aktionen:
Mit der Broschüre „Spielen macht schlauer“ bietet das Hilfswerk einen Überblick über aktuelle Erkenntnisse aus Neurowissenschaft, Pädagogik und Soziologie zum Thema Spielen. Im umfassenden Serviceteil finden Eltern Informatives und Praktisches: Eine Spielpyramide zeigt etwa auf, wie der kindliche Spielalltag gestaltet werden kann. Weiters gibt die Broschüre Empfehlungen zum Umgang mit TV, Handy und Co., erläutert Rahmenbedingungen für „gutes“ Spielen und hält nachvollziehbare Tipps bereit, mit denen Eltern der Herausforderung Entwicklungsförderung gelassen und vertrauensvoll gegenüberstehen können.
Die Broschüre wird unter anderem im Rahmen der Hilfswerk Family Tour verteilt, die von 20. April bis 18. November an 50 Orten in ganz Österreich Station macht und persönliche Information und Beratung für Eltern, Großeltern und Interessierte bietet. Informationen unter www.hilfswerk.at
Im Rahmen des Schwerpunkts werden zudem Fachtagungen und Fortbildungen für mehr als 900 Mitarbeiter/innen abgehalten. Hier werden relevante aktuelle Erkenntnisse der Soziologie der Kindheit sowie der Neuro- und Bildungswissenschaften hinsichtlich ihrer Bedeutung für eine zeitgemäße, kindzentrierte Pädagogik vermittelt und konkrete Bezüge für den Betreuungsalltag
und die Zusammenarbeit mit den Eltern aufgezeigt.
Ausgeglichene Kinder spielen
Wir wissen heute, dass das kindliche Spiel von zentraler Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung ist. Wissenschafter, Pädagogen und Experten sehen im Spiel die Basis und den wichtigsten Antrieb für lebenslanges Lernen. Im Spiel lernen Kinder nebenbei, mit Freude und auf verschiedenen Ebenen: Bei Kindern, die während ihres Heranwachsens viel und intensiv spielen konnten, gelang der Spielforschung der Nachweis eines erhöhten Kompetenzaufbaues in
ihrer emotionalen, sozialen, motorischen und kognitiven Entwicklung. Gleichzeitig können sich Kinder im Spiel vom Alltag erholen oder einschneidende Erlebnisse verarbeiten.
Mag. Matthias Huber vom Institut für Bildungswissenschaften der Universität Wien plädiert dafür, dem Spiel der Kinder mehr Raum zu geben, und sich selbst die Zeit zu nehmen, das Kind im Spiel zu beobachten: „Spielen gibt Auskunft über die Innenwelt des Kindes, über seine Bedürfnisse und Entwicklungsschritte. Das spielerische Erkunden der Welt ist für die Entwicklung des Menschen schon immer von enormer Bedeutung gewesen.“
Auch die Schauspielerin, Intendantin und Mutter Kristina Sprenger kennt das Potenzial freien Spiels aus eigenen Erfahrungen mit ihrer Tochter. „Auch wenn es mitunter schwierig ist, Beruf und Familie unter einen Hut zu bringen, achten wir darauf, gemeinsame Zeit im familiären Rahmen bewusst zu nutzen. Spielen bedeutet, mich auf mein Kind voll und ganz einzulassen. Alles andere ist in diesem Moment unwichtig. Ähnlich anspruchsvoll bin ich natürlich auch bei der Auswahl der Kinderbetreuungseinrichtung für meine Tochter gewesen. Sie sollte eine schöne, spielerische Zeit haben, die sie als Einzelkind mit anderen Kindern gemeinsam verbringt und wo auch ein voneinander Lernen möglich sein soll.“ Doch nicht nur die pädagogische Qualität war wichtig, sondern auch die Verfügbarkeit selbiger. „Der Schauspielberuf ist ohne attraktive Öffnungszeiten der Kinderbetreuungseinrichtung mit einem Kind nicht vereinbar. Derartige Betreuungsangebote sind für mich der Schlüsselfaktor, dass Frauen berufstätig sein können. Alles andere halte ich für weltfremd“, so Sprenger.
Othmar Karas: Bildungschancen-Lotterie jetzt beenden!
Kinder brauchen Spielraum für ihre Entwicklung und Entfaltung. Spielraum im wahrsten Sinne des Wortes, als räumliche und zeitliche Gelegenheiten, um ihrem Bedürfnis nach Spielen nachkommen zu können. Einrichtungen und Angebote zur Kinderbetreuung im Elementarbereich – wie Krabbelstuben, Kindergärten und Tageseltern – sind dabei ein entscheidender Faktor. Denn diese elementarpädagogischen Angebote tragen nicht nur maßgeblich zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf bei. Sie sind vor allem auch DIE erste Bildungseinrichtung für unsere Kinder.
Blickt man aber heute auf Angebot und Rahmenbedingungen der Kinderbetreuungseinrichtungen, zeigen sich massive Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern, mehr noch: Welche Betreuungs- und damit Bildungsmöglichkeiten vor Eintritt in die Volksschule zur Verfügung stehen, hängt oft von der Heimatgemeinde ab.
MEP Dr. Othmar Karas, Präsident des Hilfswerk Österreich: „Das derzeitige österreichische elementarpädagogische System steckt in einer Sackgasse: Wir leben mit willkürlichen und ungerechten Unterschieden, die keiner erklären kann. Aktuell ist es vom Wohnort abhängig, welche Möglichkeiten und Angebote Eltern für die Betreuung und Bildung von Kindern vor der Schule vorfinden. So wird frühe Bildung in Österreich zur wohnortabhängigen Bildungschancen-Lotterie!“
Politisches Bekenntnis zur Elementarpädagogik muss in echte Reform münden
Die Politik bekennt sich nun ganz klar dazu, die Elementarpädagogik als erste Bildungseinrichtung zu verstehen: Erstmals fällt der Bereich Elementarpädagogik in die Zuständigkeit des Bildungsministeriums. Im Regierungsprogramm heißt es unter anderem:
„Durch die Bildung und Betreuung in elementarpädagogischen Einrichtungen wird der Grundstein für den jeweiligen Erfolg in der weiteren Bildungs- und Berufslaufbahn gelegt. Unter Berücksichtigung der finanziellen Erfordernisse und Zuständigkeiten von Ländern und Gemeinden wollen wir eine allgemeine Anhebung der pädagogischen Qualität erreichen und damit eine bestmögliche Vorbereitung für die weitere Bildungs- und Berufslaufbahn ermöglichen.“
So soll laut Regierungsprogramm auch ein neuer Bildungsrahmenplan für elementarpädagogische Einrichtungen erarbeitet und verbindlich in ganz Österreich zur Anwendung gebracht werden.
„Jetzt geht es darum, dieses Bekenntnis zur Bildungsstufe Elementarbereich in Taten umzusetzen – und das heißt in diesem Fall: echte Reformen, die allen unseren Kindern die gleichen, bestmöglichen Bildungschancen geben, unabhängig davon, in welchem Bundesland sie aufwachsen!“, fordert Karas.
Langfristiges und nachhaltiges Finanzierungskonzept notwendig
Aktuell fördert das österreichische Finanzierungssystem in der Elementarpädagogik einen Fleckerlteppich, und nicht ein gleichwertiges Angebot in allen österreichischen Gemeinden!
So ist schon die aktuelle Anzahl institutioneller Kindergruppen pro 1.000 Kinder (unter 3 bzw. 3 bis 6 Jahre) in den einzelnen Bundesländern höchst unterschiedlich. Die Spannweite reicht z. B. bei den 3 bis 6-Jährigen von 29,6 Gruppen in Wien bis zu 63,3 Gruppen in Niederösterreich (siehe Grafik).
Laut Regierungsprogramm ist eine neue Bund-Länder-Vereinbarung (15a) zu elementarpädagogischen Einrichtungen geplant. Aus Sicht des Hilfswerks waren und sind 15a-Vereinbarungen als Anschubfinanzierung wichtig. Um eine Planungs- und Versorgungssicherheit kurz- und mittelfristig sicherzustellen, ist es auch sinnvoll, die auslaufenden 15a-Vereinbarungen zu verlängern. „Langfristig aber brauchen wir eine grundlegende Reform samt nachhaltigem Finanzierungs-konzept, um eine flächendeckend fair gestaltete Versorgung durch elementarpädagogische Einrichtungen zu garantieren“, so Karas.
15a-Vereinbarungen zwischen Bund und Ländern geben Finanzierungsanreize, etwa zum Ausbau und Qualitätssteigerung von Kinderbetreuungseinrichtungen, zur Umsetzung des verpflichtenden letzten Kindergartenjahres oder zur Sprachförderung. Die Budgetmittel sind jedoch gedeckelt. Ob eine Krabbelstube in einer Kommune tatsächlich geschaffen wird, hängt vom Finanzierungsmodell im jeweiligen Bundesland und noch viel stärker von der Finanzkraft der jeweiligen Gemeinde ab. Derzeit sind 38 Prozent der österreichischen Kommunen Abgangsgemeinden – also Gemeinden, die ohne Landesmittel ihren Haushalt nicht mehr ausgleichen können. Diese finanzschwachen Gemeinden ist es selbst so gut wie nicht möglich, die Kleinkindbetreuung auszubauen, was wiederum ihre Attraktivität als Wohnort weiter sinken lässt. Ein Teufelskreis, der nicht im Sinne der Bundesregierung sein kann!
„Nur adäquate Bildungschancen vor Ort und zeitgemäße Kinderbetreuungsangebote können die Landflucht eindämmen. Die Politik muss Rahmenbedingungen schaffen, damit auch finanz- und strukturschwache Kommunen und die dort lebenden Familien von der Weiterentwicklung des Bildungssystems profitieren“, betont Karas.
Ausbau der Kinderbetreuung bringt Win-Win-Situation
Laut einer in der vergangenen Woche veröffentlichten Studie des Österreichischen Instituts für Familienforschung lohnt sich das Investment in den Ausbau der Kinderbetreuung für unseren Staat bereits jetzt. Alleine der seit 2006 erfolgte Ausbau (Barcelona-Ziel, erste 15a Vereinbarung) macht sich durch eine höhere Frauenerwerbsquote mit zahlreichen Folgewirkungen auf den Staatshaus-halt bemerkbar. Die Mehreinnahmen (Konsumsteuern, Unternehmenssteuern, Lohnsteuern, VS-Beiträge und Lohnnebenkosten) im Ausmaß von insgesamt 1.342,6 Mio. Euro im Zeitraum 2005 bis 2016 übertreffen die zusätzlichen Kosten von 1.288,7 Mio. Euro bereits um 53,9 Mio. Euro.
Bedürfnisse von Kindern richten sich nicht nach Bundesländergrenzen!
Betrachtet man heute Angebot und Qualität von Kinderbetreuungseinrichtungen in ganz Österreich, fallen große regionale Unterschiede auf. Derzeit gelten in jedem Bundesland unterschiedliche Standards, etwa was die Fläche pro Kleinkind in Betreuungseinrichtungen betrifft. So müssen die Gruppenräume für Krabbelstuben jedem Kind eine Fläche von mindestens 2 m² im Burgenland bieten – in der Steiermark sind es 8 m².
Ähnlich markant sind die Unterschiede bei der Mindestqualifikation der Kindergartenhelfer/innen und der Assistentinnen bzw. Assistenten in den Kinderbetreuungseinrichtungen für unter Dreijährige: Während diese in der Steiermark 475 Übungseinheiten absolviert haben müssen, sind es im Burgenland 200 Einheiten. In Niederösterreich, Salzburg, Vorarlberg und Wien gibt es gar keine Mindestqualifikation als Voraussetzung für die Tätigkeit.
Mit den geltenden unterschiedlichen Standards kann Österreich keine strukturelle Chancengleichheit für seine jungen und jüngsten Bürgerinnen und Bürger garantieren. Dazu ist der Staat aber verpflichtet, vor allem wenn er bereits die Phase vor dem Eintritt in die Volksschule zur Bildungslaufbahn zählt“, erläutert Othmar Karas.
Das Hilfswerk Österreich begrüßt daher das Ziel der Bundesregierung, einen „neuen verbindlichen Bildungsrahmenplan für elementarpädagogische Einrichtungen“ zu erarbeiten. Dieser Rahmenplan muss entsprechende Qualität sicherstellen und auf Basis fairer Grundlagen ermöglichen, flächendeckend ein kindgerechtes, bedarfsorientiertes und vielfältiges Bildungs- und Betreuungsangebot zu schaffen.
Pädagogische und strukturelle Vielfalt auf Basis einheitlicher Standards
Die Elementarpädagogik in Österreich wird derzeit von den vielfältigen Ausformungen des Föderalismus geprägt. Unsere Kinder brauchen jedoch eine auf gleichen Standards beruhende Vielfalt des Angebots. Aus gutem Grund haben wir schließlich auch einheitliche Standards in den Volksschulen, Neuen Mittelschulen, Gymnasien und allen anderen in Österreich verfügbaren Schulen. Um besser auf regionale und spezifische Besonderheiten vor Ort reagieren zu können, setzen wir auf Schulautonomie. Für den Elementarbereich müssen nun ebenfalls einheitliche, bundesländerübergreifende Mindeststandards geschaffen werden. Gleichzeitig braucht es ein vielfältiges Angebot, sowohl in pädagogischer Hinsicht (Vielfalt der Ansätze), als auch strukturell (Vielfalt der Träger). Nur so finden unterschiedliche Bedürfnisse auch tatsächlich Berücksichtigung.
„Eine qualitative Elementarpädagogik für alle Kinder in Österreich erfordert einen nationalen Kraftakt, der Vielfalt auf Basis fairer Grundlagen und Standards sicherstellt! Vielfalt soll konsequent dort gefördert werden, wo sie der bestmöglichen Entwicklung der Kinder, nicht aber einem falsch verstandenen Föderalismus dient. Nur so kann die Politik langfristig garantieren, dass alle Kinder unabhängig vom Wohnort eine faire Bildungschance erhalten“, so Othmar Karas abschließend.