Österreich startet den Wiederaufbau nach der Krise. Das Land soll zukunftsfit und krisenfest werden, Investitionen sollen zu wirtschaftlichem Aufschwung führen und neue, stabile Arbeitsplätze schaffen. Genau der richtige Zeitpunkt, die Umsetzung der Pflegereform entschieden anzugehen. Das meinen das Institut für Höhere Studien (IHS) und das Hilfswerk in einer Pressekonferenz am Dienstag, 11. Mai, in Wien. „Die Corona-Krise und ihre Folgen dürfen kein Grund für eine weitere Verschiebung der Pflegereform sein. Ganz im Gegenteil: Wer glaubt, dass wir uns eine Pflegereform jetzt nicht leisten können, irrt doppelt! Wir müssen uns die Pflegereform leisten: zur Sicherstellung der Versorgungssicherheit, aber auch als Motor des Aufbaus“, ist Othmar Karas, Präsident des Hilfswerk Österreich überzeugt. „Der Internationale Tag der Pflege am 12. Mai ist ein guter Anlass, das klar zu machen“, so Karas weiter. Rückendeckung bekommt er von Expertin Monika Riedel, Institut für Höhere Studien (IHS). Sie rechnet vor, dass jedem Euro Investition in die Pflege ein Vielfaches an Wertschöpfung gegenübersteht. Das stärke die (regionale) Wirtschaft. Außerdem schaffe die Pflegebranche laut IHS nachhaltige, saisonunabhängige Jobs im städtischen und ländlichen Raum. Genau solche Jobs braucht der krisengebeutete Arbeitsmarkt jetzt.
1 Euro Investition in die Pflege bringt 1,7 Euro volkswirtschaftliche Wertschöpfung
„Die überdurchschnittlich positiven Effekte, welche Ausgaben in die Pflege auf die volkswirtschaftliche Wertschöpfung haben, lassen sich eindeutig belegen“, erläutert Monika Riedel. „Diese Mittel fließen überwiegend in Personalkosten und Gehälter, welche im betreffenden Einkommenssegment hauptsächlich für Konsum verwendet werden. Das führt zu einer massiven Unterstützung der Wirtschaft, insbesondere der regionalen Wirtschaft“, führt IHS-Expertin Riedel weiter aus. Und rechnet vor, dass allein die 459 Mio. Euro, welche die Länder 2019 für mobile Dienste wie Hauskrankenpflege und Heimhilfe eingesetzt haben, rund 1.141 Mio. Euro an Wertschöpfung generiert hätten. Überdies würden Ausgaben in die Pflege zu einem Rückfluss überdurchschnittlich hoher Steuer- und Sozialversicherungsabgaben führen. Für 2019 geht das IHS von rund 225 Mio. Euro „direktem“ Rückfluss aus, der vor allem an die Sozialversicherung erging. Unter Berücksichtigung der induzierten Wertschöpfung wären die Beträge entsprechend höher anzusetzen. Mit anderen Worten: „Wir können davon ausgehen, dass 1 Euro Investition in die Pflege 1,7 Euro an volkswirtschaftlicher Wertschöpfung sowie 0,7 Euro an Steuern und Sozialversicherung einbringt“, so Riedel.
Pflege schafft nachhaltige, saisonunabhängige Jobs im städtischen und ländlichen Raum
Ähnlich zu beurteilen sind laut Reidel die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt: „Hier steht der Mehrbedarf an Personal in Pflege und Betreuung von rund 90.000 Kräften bis 2030, welche Gesundheit Österreich (GÖG) prognostiziert, der krisenbedingten Arbeitslosigkeit gegenüber. Die Daten des Arbeitsmarktservice (AMS) zeigen punkto Arbeitslosigkeit zwischen Jänner 2020 und Jänner 2021 bei Frauen einen Anstieg von +42,4%, bei Männern von +25,2%“, führt Riedel aus. Die Expertin weist darauf hin, dass natürlich Bewegung in den Arbeitsmarkt komme, sobald die Wirtschaft wieder anspringe. Jedoch sei mit einer relevanten Anzahl Personen zu rechnen, die sich nach der Krise beruflich neu orientieren wollen oder müssen. Der Ausbau der Pflege schafft nachhaltige, saisonunabhängige Jobs, im städtischen wie auch im ländlichen Raum. Das wirkt der Landflucht entgegen und fördert die regionale Entwicklung. Der Ausbau der Pflege ist auch aus Gleichstellungssicht interessant: Die Pflege ist einerseits ein bedeutender Arbeitsmarkt für Frauen, andererseits entlasten mehr formelle Pflegeangebote die zumeist weiblichen pflegenden Angehörigen“, erläutert die IHS-Expertin.
„Masterplan“ für gezielte Investitionen in eine wirksame Personaloffensive unabdingbar
In eine umfassende und wirksame Personaloffensive zu investieren sei die prioritäre Maßnahme der Pflegereform. Das meint auch Elisabeth Anselm, Geschäftsführerin des Hilfswerk Österreich, im Rahmen des Pressegesprächs. Dazu brauche es allerdings einen „Masterplan“. „Es genügt nicht, zu hoffen, dass einzelne Fachhochschulen wissen, was sie tun. Es genügt auch nicht, mittels vereinzelter Pilotmodelle neue Zugänge zum Beruf schaffen zu wollen – beispielsweise an Berufsbildenden Höheren Schulen. Gesundheits- und Sozialberufe müssen vielmehr selbstverständlicher Teil des Regelschulwesens werden! Und nicht zuletzt dürfen wir die Auseinandersetzung mit der Lehre als Zugang zum Berufsfeld nicht länger auf die lange Bank schieben“, warnt Anselm, denn: „In spätestens zwei Jahren reicht die Anzahl der Absolventinnen und Absolventen nicht mehr, um den laufenden Personalbedarf sicher zu stellen.“ Derzeit müssen oder wollen sich viele Menschen beruflich neu orientieren. Das Hilfswerk sieht, ergänzend zur Ausbildung, in der Umschulung deshalb eine „historische“ Chance. „Aus der Praxis kennen wir die Faktoren, welche für den Zugang zum Beruf entscheiden sind, genau: gute Erstinformation und Beratung, laufende Begleitung und Coaching bei Umschulung und Einstieg, umfassender Einbezug der künftigen Arbeitgeber, Übernahme der Ausbildungskosten und adäquate Unterstützung des Lebensunterhalts“, erklärt Anselm. Letzteres gelte laut Hilfswerk nicht nur für Umschulungsprogramme, sondern für alle Ausbildungsformen. Auch Praktika müssten laut Hilfswerk endlich bezahlt werden.
Bund und Länder gefordert: Zielsteuerung und Finanzierungskonzepte müssen auf den Tisch!
Laut Hilfswerk bedinge eine wirksame Personaloffensive, ebenso wie weitere dringende Vorhaben der Pflegereform, angesichts der Kompetenzlage das Zusammenwirken von Bund und Ländern. Es sei deshalb höchste Zeit, die geplante Zielsteuerung in Gang zu setzen, um Maßnahmen zielgerichtet abzustimmen und mit Finanzierungskonzepten zu hinterlegen. Eine zukunftsfähige Pflegereform mache laut Hilfswerk ferner die Stärkung der Pflege zu Hause zum Thema. Aktuell entwickle sich die Pflegelandschaft in Österreich indessen in die Gegenrichtung. Der Ausbau bedarfsgerechter und leistbarer Angebote zur Unterstützung Betroffener und pflegender Angehöriger müsse gezielt vorangetrieben werden. Dazu gehöre auch ein richtig verstandenes Community Nursing ebenso wie die Verbesserung der Einstufungspraxis und der Grundlagen zum Pflegegeld. Letzteres sei für die häusliche Pflege von besonderer Bedeutung.