„Die ständige Verkennung der realen Gegebenheiten in der Pflege und Betreuung zu Hause verhindert nicht nur einen klaren Blick auf die Situation im häuslichen Bereich, sie verhindert auch, dass die richtigen Maßnahmen getroffen werden“, erläutert Elisabeth Anselm, Geschäftsführerin des Hilfswerk Österreich. Das Hilfswerk ist Österreichs größter Anbieter von Pflege und Betreuung zu Hause. Das Portfolio umfasst sowohl mobile Dienste wie Hauskrankenpflege und Heimhilfe, als auch 24-Stunden-Betreuung. „In Österreichs Pflegeheimen werden rund 21 Prozent der Pflegebedürftigen versorgt. Etwa 79 Prozent der Pflegegeldbezieher/innen unterschiedlichen Pflegegrades aber leben zu Hause. Und hier wird die 24-Stunden-Betreuung politisch und medial völlig überschätzt. Sie ist für die betroffen Menschen natürlich ausgesprochen wichtig, aber nur knapp sechs Prozent der Pflegegeldbezieher/innen in Österreich nehmen sie in Anspruch. Die mobilen Dienste hingegen werden von über 30 Prozent der Pflegegeldbezieher/innen in Anspruch genommen. Sie versorgen mehr Betroffene als Pflegeheime und 24-Stunden-Betreuung zusammen“, erklärt Anselm.
„Die ständige Vermischung und Verwechslung dieser Bereiche ist insbesondere deshalb so fatal“, meint Anselm, „weil wir in diesen beiden Settings in der Corona-Krise vor völlig anderen Herausforderungen stehen. In den mobilen Diensten fährt fast ausschließlich österreichisches Fachpersonal, d. h. diplomierte Krankenpfleger/innen, Pflegeassistenten/-assistentinnen und Heimhilfen, seine Touren und besucht mehrmals in der Woche, teilweise auch mehrmals täglich, pflegebedürftige Menschen und deren Angehörige zu Hause. Die Fachkräfte nehmen im Rahmen der Hauskrankenpflege und Heimhilfe pflegerische und Haushaltstätigkeiten wahr. Ein Drittel der Pfleggeldbezieher/innen nutzt diese Form der Unterstützung, um ihren Alltag zu Hause zu meistern. Wir haben es hier, betreffend die versorgten Personen, also mit dem größten Sektor der Pflege und Betreuung zu tun, der aber im medialen und politischen Diskurs aktuell völlig übersehen wird“ führt Anselm aus. Und sie fährt fort: „In den mobilen Diensten ist unsere größte Herausforderung in der Corona- Krise der Engpass bei Schutz- und Hygienematerial, um die betreuten und gepflegten Menschen, aber auch unsere Mitarbeiter/innen, die täglich mehrere Kontakte auf ihren Touren haben, ausreichend und effektiv zu schützen. Auch Tests wären wichtig und hilfreich.“
Ganz anders stelle sich die Situation in der 24-Stunden-Betreuung dar. „In der 24-Stunden-Betreuung, die lediglich sechs Prozent der Pflegegeldbezieher in Österreich betrifft, arbeiten fast ausschließlich ausländische Betreuungskräfte – meist aus Osteuropa. Die sogenannten Personenbetreuer/innen leben im Haushalt der Betroffenen und versorgen jeweils eine, fallweise auch zwei Personen. Hier brauchen wir zwar auch mehr Schutz- und Hygienematerial, aber die mit Abstand größte Herausforderung in diesem Bereich ist es, angesichts der Situation durch die aktuellen Ein- und Ausreisebestimmungen in der Corona-Krise, das Betreuungspersonal nach Österreich hereinzuholen, und natürlich auch wieder nach Hause zu bringen. Dieser Prozess ist völlig ins Stocken geraten“, berichtet Anselm. „Während eine Reihe von Betreuer/innen seit Wochen in Österreich quasi ‚festsitzt‘, möchten andere gerne hereinkommen, um ihrer Arbeit nachzugehen. Beides ist schwierig, weil durch aufwändige Quarantänen belastet – und zwar sowohl bei Einreise nach Österreich als auch bei der Rückreise in das Herkunftsland. Quarantänen werden uns nicht helfen, eine ‚Normalisierung‘ in der 24-Stunden-Betreuung herzustellen. Viel wichtiger wären valide und kompakte Testverfahren“, ist Anselm überzeugt. Außerdem müsse man sich bezüglich der Länder, die nicht an Österreich grenzen, wie etwa Bulgarien, Rumänien und Kroatien, dringend um Anreisekorridore bemühen, damit die Betreuer/innen durch jene Länder, die zwischen Österreich und den Herkunftsländern liegen, durchreisen können. „Charterflüge werden uns auf Dauer nicht helfen“, meint Anselm abschließend.