Der 10. Oktober ist der „Tag der psychischen Gesundheit“. Für das Hilfswerk ein willkommener Anlass nachzufragen: Wie steht es überhaupt um die psychische Gesundheit der Österreicher/innen? Welche Angebote zur Behandlung psychischer Probleme stehen ihnen zur Verfügung? Eine im Sommer 2020 veröffentlichte Studie, verfasst von Sophie Karmasin im Auftrag des Berufsverbandes Österreichischer PsychologInnen (BÖP), lässt die Alarmglocken läuten. 39 Prozent der Menschen in Österreich waren in der Vergangenheit oder sind aktuell von einer psychischen Erkrankung betroffen. Viele von ihnen sind in der Schweigespirale gefangen. Nicht einmal drei Viertel der Befragten würden ihren Angehörigen, nur 21 Prozent ihren Arbeitskolleg/innen davon erzählen. Nur zehn Prozent der Befragten glauben, dass Menschen mit psychischen Krankheiten in Österreich ausreichend geholfen wird, für beinahe zwei Drittel wäre die adäquate Behandlung psychischer Krankheiten unfinanzierbar.
Gesellschaftliche Ausnahmesituationen wie die Covid-Pandemie bringen Menschen vermehrt in seelische Krisensituationen. Viele fürchten sich vor Jobverlust, andere wiederum sind gerade jetzt mit Konflikten und Überforderungen am Arbeitsplatz konfrontiert. Erziehungsarbeit, Sorge um ältere und/oder kranke Familienmitglieder sowie krisenhafte Beziehungen zu Angehörigen führen oft an die Grenzen der psychischen Belastbarkeit. Die Zahl jener, die sich bereits inmitten solcher Szenarien befinden, ist seit dem Corona-Lockdown im Frühling sprunghaft angestiegen und nimmt noch immer zu. Die Folgen des Mangels an sozialen Kontakten, die allgemeine Überforderung in der Krise sowie der Druck, der aus aktuellen schulischen oder sozialen Defiziten resultiert, fordern ihren psychischen Tribut. Viele der Betroffenen suchen Hilfe bei Expert/innen aus den sogenannten PSY-Berufsfeldern. Das sind Psychotherapeut/innen, Klinische Psycholog/innen und Psychiater/innen. „Eine professionelle Begleitung und Unterstützung scheitert jedoch oftmals an den finanziellen Möglichkeiten der Klientinnen und Klienten – oder schlicht und einfach am mangelnden Angebot in Wohnortnähe“, gibt Martina Genser-Medlitsch zu bedenken. Sie ist fachliche Leiterin für den Bereich Kinder, Jugend, Familie und psychosoziale Dienste im Hilfswerk Österreich.
Der Mehrbedarf an psychosozialer Unterstützung entstehe etwa durch akuten Mangel an sozialen Kontakten, durch die allgemeine Überforderung in der Krise sowie den Druck, der aus aktuellen schulischen oder sozialen Defiziten resultiere. „Gerade für alte und kranke Menschen sowie ihre pflegenden Angehörigen ebenso wie Familien, Kinder und Jugendliche müssen wir dringend mehr Unterstützung anbieten – auch durch zugehende Angebote“, ist Genser-Medlitsch überzeugt.
Restriktive Zugangsbedingungen verhindern adäquate Behandlungen
Das Hilfswerk begrüßt zwar das Vorhaben der Österreichischen Gesundheitskasse, ab Herbst die psychotherapeutische Versorgung schrittweise um 20.000 Plätze aufzustocken und damit auch in außerurbanen Regionen ein entsprechendes Angebot voranzutreiben. „Nach wie vor jedoch machen restriktive Bedingungen den Zugang zur psychotherapeutischen Versorgung zum Spießrutenlauf. Das gilt für Betroffene ebenso wie für Anbieter/innen psychotherapeutischer Dienste. Es braucht endlich einen Gesamtvertrag statt Stundenkontingenten mit Zuzahlungen, die zudem in den Bundesländern auch höchst unterschiedlich ausfallen“, fordert Genser-Medlitsch. Handlungsbedarf bestehe laut Hilfswerk auch bei der Neugestaltung der Kostensätze. Eine Direktverrechnung der Anbieter/innen mit der ÖGK anstatt einer Vorleistung durch die Patient/innen würde es vielen, v. a. finanziell schlechter gestellten Personen erleichtern, entsprechende Hilfe in Anspruch zu nehmen.
Leistungsangebot Klinischer Psycholog/innen „auf Kasse“!
Besonders kritisch wertet man im Hilfswerk den Umstand, dass die spezifischen Kompetenzen frei praktizierender Klinischer Psycholog/innen – im Gegensatz zu Psychotherapeut/innen und Psychiater/innen – noch immer nicht ins ASVG eingeflossen sind. „Während sie im stationären Bereich längst etabliert und gesetzlich verankert ist, gibt es im niedergelassenen Bereich keine klinisch-psychologische Behandlung bzw. Therapie als Kassenleistung, obwohl damit regionale Versorgungslücken, speziell in ländlichen Gebieten geschlossen werden könnten“, sagt Genser-Medlitsch.
In Gesprächen mit Vertreter/innen des Berufsverbandes Österreichischer PsychologInnen (BÖP) und anderer Organisationen hat Sozial- und Gesundheitsminister Rudolf Anschober bereits signalisiert, die Neugestaltung der Versorgungslandschaft vorantreiben zu wollen. „Davon würden insbesondere Menschen in psychischen Problemlagen, vor allem die stark wachsende Gruppe von Kindern und Jugendlichen mit Behandlungsbedarf profitieren“, meint Genser-Medlitsch. Das Hilfswerk unterstützt alle Bestrebungen, eine „Psychologie auf Kasse“ zu erreichen. „Außerdem teilen wir die Forderung nach einem gesamthaften Versorgungskonzept, bei dem alle PSY-Berufe gleichermaßen berücksichtigt werden und es keine Benachteiligungen mehr gibt“, so Genser-Medlitsch abschließend.
Große Hilfe, ganz nah: Hilfswerk-Angebote für Menschen in psychischen Problemlagen
Das Hilfswerk ist eine gemeinnützige Organisation, die sich u. a. im Bereich psychosozialer, gesundheitlicher und familiärer Dienste in Österreich engagiert.
Information und Beratung rund um Kinder, Jugend, Familie, Gesundheit und Soziales unter der Hilfswerk Servicehotline: 0800 800 820 (gebührenfrei aus ganz Österreich).
Eine Vielzahl kostenloser Broschüren kann unter www.hilfswerk.at bestellt bzw. runtergeladen werden.