(Wien, 8. April 2024) In den letzten beiden Jahren hat die Bundesregierung viele Reformmaßnahmen in der Pflege und Betreuung auf den Weg gebracht, die grundsätzlich zu begrüßen sind. Aus struktureller Sicht ist die Pflege- und Betreuungslandschaft österreichweit allerdings weiterhin von Hürden und Systemgrenzen geprägt, der Fachkräftemangel schränkt bereits die Versorgungsangebote ein und auch die bereits spürbare Dynamik der demografischen Entwicklung erfordert unverzügliches Handeln.
In der Bundesarbeitsgemeinschaft Freie Wohlfahrt (BAG) haben sich Caritas, Diakonie, Hilfswerk, Rotes Kreuz und Volkshilfe zusammengeschlossen – gemeinsam vertreten sie den größten Teil der gemeinnützigen Pflege- und Betreuungsdienstleistungen in Österreich. Anna Parr, aktuelle Vorsitzende der BAG und Generalsekretärin der Caritas Österreich: „Auf Basis unserer Expertise und unserer Erfahrungen haben wir in einem gemeinsamen Prozess ein Positionspapier erarbeitet, mit 61 Maßnahmen in fünf Kapiteln zur Absicherung einer guten Zukunft unseres Pflege- und Betreuungssystems. Die bereits eingeleiteten Maßnahmen müssen abgesichert und ausgebaut werden. Aber darüber hinaus braucht es auch mutige Innovationsschritte, um eine umfassende Strukturreform zu erreichen.“
Die notwendigen Maßnahmen für eine Systemreform in der Pflege und Betreuung liegen nun am Tisch – zentral muss sich diese mit den Bereichen Personal, Versorgungsstrukturen, pflegebedürftige Personen und ihre Angehörigen, Organisation/Finanzierung/Digitalisierung sowie dem Bundespflegegeld beschäftigen. Die Verantwortlichen in Bund und Ländern haben damit die notwendige Grundlage um die Systemreform zu starten.
Caritas zu Forderungen im Personalbereich: Menschen müssen in den Mittelpunkt
Anna Parr, Generalsekretärin Caritas Österreich: „Bis 2030 fehlen uns pro Jahr bis zu 3.000 zusätzliche Pflegekräfte in Österreich. Nur durch gezieltes Gewinnen von neuem Personal, sowie Binden und Halten des bestehenden Personals kann es gelingen, den Bereich Pflege und Betreuung langfristig zu sichern und auszubauen. Das heißt, die von uns geforderte Systemreform muss ganz klar erstens die Ausbildung bzw. Personalgewinnung in den Blick nehmen und zweitens bessere Rahmenbedingungen für die arbeitenden Menschen schaffen. Die Pflege und Betreuung ist ein sehr schönes und wichtiges Berufsfeld – die darin arbeitenden Menschen haben es verdient, gute Rahmenbedingungen für ihre wertvolle Arbeit vorzufinden.“ Außerdem muss Österreich auch für Pflegepersonen aus anderen Ländern attraktiver werden – neben einer Gesamtstrategie des Bundes benötigt dies eine entsprechende Willkommenskultur für internationale Fachkräfte.
Volkshilfe zu den Forderungen im Bereich Versorgungslandschaft und –angebote
Erich Fenninger, Direktor der Volkshilfe Österreich: „Wir müssen die Versorgungslandschaft um die Bedürfnisse der Menschen bauen. Es muss eine Garantie geben, dass alle Menschen, die in Österreich leben, das für sie passende Angebot bekommen. Das geht am wirkungsvollsten mit einem massiven Ausbau von vielfältigen Pflege- und Betreuungsdiensten und Wohn- und Betreuungsformen. Und das muss finanziert und flächendeckend organisiert werden. Pilotprojekte, Ansätze und Teillösungen gibt es viele, jetzt muss gehandelt werden.“
Diakonie zu den Forderungen im Bereich Pflegegeld und Stärkung der Prävention und Gesundheitsförderung
„Wir werden immer älter – aber werden wir auch gesund älter?“ fragt Diakonie Direktorin Maria Katharina Moser. „Wenn wir den Herausforderungen begegnen wollen, brauchen wir eine radikale Pflegereform – eine Reform, die an die Wurzeln des Problems geht. Und dazu gehören wesentlich Gesundheitsförderung und Prävention. Diese sind im aktuellen Pflegesystem nicht berücksichtigt. Pflege, wie sie aktuell in Österreich gedacht, organisiert und finanziert wird, fokussiert nur den Ausgleich von Defiziten. Und sie wird auf medizinische und hygienische Fragen verengt. Das wird am Pflegegeld deutlich: Pflegegeld bekommt man, wenn Einschränkungen manifest sind und die Fähigkeit zur Selbstversorgung zu einem erheblichen Grad verloren ist.“
Zur Weiterentwicklung des Pflegegeldes fordert die BAG u.a. die Berücksichtigung von Gesundheitsförderung, von ressourcenerhaltender und ressourcenaktivierender Pflege sowie von Bedürfnissen der sozialen Teilhabe und Maßnahmen gegen Einsamkeit. Zudem braucht es Optimierungen bei der Begutachtung und korrekten Einstufung.
Rotes Kreuz zu den Forderungen im Bereich Pflege- und betreuungsbedürftige Menschen und ihre An- und Zugehörigen
Michael Opriesnig, Generalsekretär des Österreichischen Roten Kreuzes: „Pflegende Angehörige sind der ‚größte Pflegedienst des Landes‘. Knapp eine Million Menschen in Österreich übernehmen Betreuungsaufgaben. Häusliche Pflege ist für betroffene Familien die teuerste Form der Pflege. Aufgrund der Teuerung und sinkender Kaufkraft droht oft die Armutsfalle. Die Unterstützung muss weiter ausgebaut werden, nicht nur finanziell, sondern auch ergänzende Angebote zum Austausch und zur Selbsthilfe, um die Versorgung pflegebedürftiger Menschen durch Angehörige abzusichern.“
Hilfswerk: Es braucht mehr Investitionen, wirksame Steuerung und offensive Digitalisierung!
„Der Finanzausgleich für die Jahre 2024 bis 2028 zielt auf die finanzielle Absicherung bestehender Maßnahmen sowie jener aus den Pflegereformpaketen ab. Positiv zu bewerten ist, dass er die demografische Entwicklung einpreist und auf die Festlegung realitätsferner Restriktionen in den Ausgabepfaden verzichtet, wie dies in der Vergangenheit der Fall war und auch vom Rechnungshof kritisiert wurde“, meint Elisabeth Anselm, Geschäftsführerin des Hilfswerk Österreich. „Kritisch zu sehen ist, dass der Finanzausgleich keinen relevanten Spielraum für zusätzliche, dringend notwendige Reformschritte vorsieht, etwa für die Weiterentwicklung der Versorgungslandschaft und der Arbeitsbedingungen von Pflege- und Betreuungskräften, aber auch für Innovation und Digitalisierung“, moniert Anselm. Ohne gezielte Ausweitung der öffentlichen Investitionen und eine intelligente Steuerung werde man dem wachsenden Bedarf nicht adäquat begegnen können, ist die Hilfswerk-Geschäftsführerin überzeugt. Anselm bringt Vergleiche: „Die Gesamtaufwendungen der öffentlichen Hände für Pflege und Betreuung liegen in Österreich bei 1,1 Prozent des BIP. Der OECD-Durchschnitt liegt bei 1,7 Prozent. Die Niederlande, Norwegen und Schweden liegen bei über 3 Prozent, Deutschland bei 1,5 Prozent.*“ In der nächsten Legislaturperiode müsse sich die Pflegeentwicklungskommission aus Bund, Ländern und Gemeinden dringend mit Versorgungszielen und -konzepten sowie Personalstrategien auseinandersetzen, um eine intelligente Entwicklung des Systems trotz Kompetenzzersplitterung zu bewerkstelligen, fordert Anselm. „Und wir müssen in Digitalisierung und Innovation investieren, um mehr Kontinuität und Sicherheit, aber vor allem, um mehr Effizienz und Entlastung ins System zu bringen“, meint Anselm abschließend.
*Quelle: OECD Health Working Papers No. 121, 2020
Download des Positionspapiers der Bundesarbeitsgemeinschaft freie Wohlfahrt: Zentrale Forderungen für weitere Reformschritte im Bereich Pflege und Betreuung unter: https://www.freiewohlfahrt.at/download/informationen/2024_BAG_Zentrale_Forderungen_fuer_weitere_Reformschritte_im_Bereich_Pflege_und_Betreuung.pdf
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