Kindererziehung, Pflege von Angehörigen, Hausarbeit, Ehrenamt: Frauen wenden pro Tag im Durchschnitt 52,4 Prozent mehr Zeit für unbezahlte Sorgearbeit auf als Männer, wie Studien, wie jene des deutschen Bundesministeriums, zeigen. Dieser Unterschied wird als "Gender Care Gap" bezeichnet. Alles Clara - die App, die Pflegen leichter macht - hat anlässlich des Equal Care Days am 29.Februar 2024 Hilfswerk Geschäftsführerin Elisabeth Anselm zum Interview gebeten, um über die Wichtigkeit der Anerkennung von Sorgearbeit, Rahmenbedingungen und mögliche Lösungsansätze zu sprechen.
Worum geht es beim Equal Care Day?
Anselm: Die Initiative Equal Care Day möchte ganz grundsätzlich das Bewusstsein für Care- oder Sorgearbeit und insbesondere für deren Ungleichverteilung fördern, sie setzt sich klar und deutlich für mehr Gerechtigkeit und Anerkennung dieser Arbeit ein. Care- oder Sorgearbeit bezeichnet dabei alle bezahlten und unbezahlten Tätigkeiten der aktiven Fürsorge und des Sich-Kümmerns, beispielsweise um Kinder, um kranke und hochaltrige Menschen, um den Haushalt, um Erziehung, um Betreuung und Pflege, und um vieles mehr. Und egal, ob privat und unbezahlt oder beruflich und bezahlt: Diese Arbeit wird in überwältigendem Ausmaß von Frauen getragen.
Warum ist mehr Gerechtigkeit und Anerkennung für Sorgearbeit so wichtig?
Anselm: Nehmen wir als Beispiel den Bereich der Betreuung und Pflege älterer und kranker Angehöriger: Ohne pflegende Angehörige würde das Pflegesystem in Österreich kollabieren. Rund 80% der pflegebedürftigen Menschen werden zu Hause betreut und gepflegt. Ein großer Teil alleine von An- und Zugehörigen, andere mit Unterstützung ambulanter Dienste wie Hauskrankenpflege und Heimhilfe oder mit 24-Stunden-Betreuung. Ein großer Teil der pflegenden Angehörigen sind Ehefrauen, Töchter, Schwiegertöchter. Aber Frauen stemmen auch immer noch den Großteil der Hausarbeit und Kindererziehung, selbst wenn sie berufstätig sind. All das führt dazu, dass sie erheblich weniger Freizeit oder Zeit für sich haben als Männer, sich nicht so gut erholen können, sich zwischen ihren privaten und beruflichen Aufgaben und Verpflichtungen oft „zerrissen“ fühlen, weniger berufliche Chancen haben. Aber auch im bezahlten, beruflichen Bereich der Care- und Sorgearbeit, wie etwa in den Pflegediensten oder in der Kinderbetreuung, ist der Anteil der Frauen überwältigend. Bei uns im Hilfswerk sind das rund 90%! Würden all diese Frauen den privaten oder beruflichen Dienst quittieren, wären wir als Gesellschaft verloren. Gerechtigkeit und Anerkennung für diese Arbeit ist daher unbedingt angesagt!
Welche konkreten Maßnahmen könnten dazu beitragen, die Rahmenbedingungen für Sorgearbeit in der Gesellschaft zu verbessern?
Anselm: Menschen, die privater, unbezahlter Care- und Sorgearbeit nachgehen, brauchen meiner Erfahrung nach vor allem wirksame Unterstützung und Entlastung. Dazu zählen beispielsweise gute und bedarfsgerechte Angebote in der Kinderbetreuung, im Bereich der Pflegedienste, in der Beratung und Begleitung, aber auch in der sozialen Absicherung für Phasen, in denen beruflich zurückgesteckt oder pausiert wird. Da ist schon sehr viel geschehen, aber es gibt immer noch relevante Lücken zu schließen. Es geht meines Erachtens aber auch um eine gerechtere Verteilung der Sorgearbeit. Es wäre wichtig, dass Männer sich stärker an der Sorgearbeit beteiligen, sei es beruflich oder privat. In der beruflichen Care- und Sorgearbeit geht es um eine adäquate Bezahlung, ordentliche Rahmenbedingungen für die Arbeit, weniger Bürokratie, Entlastung durch Digitalisierung, realistische Vorgaben, die auch Zeit für soziale Belange und Gespräche geben, aber auch für Fallbesprechungen, Inter- und Supervision. Außerdem müssen wir jenseits der Arbeitsbedingungen auch die Ausbildung und den Zugang in diese Berufe weiter attraktivieren. Denn was Menschen in der beruflichen Sorgearbeit am dringendsten brauchen, sind mehr Kolleginnen und Kollegen!
Welche besonderen Herausforderungen sehen Sie in Bezug auf Pflege- und Betreuungsarbeit?
Anselm: In der Pflege- und Betreuungsarbeit fordert uns im professionellen Bereich aktuell vor allem der wachsende Personalbedarf vor dem Hintergrund des demografischen Wandels. Es ist nicht so, dass dieses Berufsfeld keine Menschen anzieht, ganz im Gegenteil: Der Pflege- und Sozialbereich hatte in den vergangenen Jahren enorme Zuwächse zu verzeichnen. Kein Wunder, denn die Arbeit mit und für Menschen wird trotz mannigfaltiger Herausforderungen als äußerst sinnstiftend erlebt. Aber der Bedarf wächst eben erheblich stärker: Wir werden älter, sind öfter und länger auf Pflege und Betreuung angewiesen, geburtenstarke Jahrgänge kommen in´s „Pflegalter“. Wir brauchen mehr Kolleginnen und Kollegen! Im Bereich der informellen Pflege, also der pflegenden An- und Zugehörigen, machen sich Aspekte bemerkbar wie die - erfreulicher Weise - zunehmende Erwerbsquote von Frauen, die als Töchter und Schwiegertöchter auch mit Blick auf ältere Angehörige vor der Herausforderung der Vereinbarkeit von Beruf und Familie stehen, aber auch die höhere Mobilität von Familien spielt beispielsweise eine Rolle, man wohnt oft nicht mehr im selben Ort wie die älter werdende Elterngeneration. Und dennoch möchte man, dass es den Eltern möglichst gut geht. Es braucht daher mehr und neue Angebote der Unterstützung.
Welche Rolle spielt die Politik bei der Förderung guter Rahmenbedingungen für Sorgearbeit?
Anselm: Die Politik spielt eine ganz entscheidende Rolle. Fast alles, was ich zuvor bei den Maßnahmen genannt habe, ist in hohem Maße davon abhängig, ob die Politik adäquate organisatorische und finanzielle Rahmenbedingungen schafft oder eben nicht. Das gilt für bedarfsgerechte, leistbare und lokal verfügbare Betreuungs- und Unterstützungsangebote ebenso wie für die Rahmenbedingungen beruflicher Care- und Sorgearbeit. Hier ist in den vergangenen Jahren und Monaten sehr viel geschehen, aber es warten immer noch große „Baustellen“ auf die Politik, und damit auf uns alle. Wir werden uns jedenfalls daran gewöhnen müssen, dass wir bestimmten Feldern der Care- und Sorgearbeit, beispielsweise der Pflege, nicht nur vorübergehend, sondern nachhaltig mehr politische, budgetäre und gesellschaftliche Aufmerksamkeit und entsprechendes Engagement zukommen lassen müssen.
Gibt es positive Beispiele von Initiativen oder Ländern, die erfolgreich Maßnahmen zur Gleichstellung von Sorgearbeit umgesetzt haben?
Anselm: Meines Erachtens geht es weniger um isolierte Einzelinitiativen, sondern um eine Grundhaltung, vor deren Hintergrund dann auch die richtigen Initiativen systematisch wachsen können: Ist uns Care- und Sorgearbeit etwas wert oder nicht? Wollen wir Menschen, die sich privat oder beruflich in der Care- und Sorgearbeit engagieren, entsprechend unterstützen, ihre Leistung anerkennen, dem Wert dieser Arbeit gerecht werden? Oder hoffen wir, dass sich das schon alles von selbst richten wird? Nicht zuletzt vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen und demografischen Wandels möchte ich vor Letzterem warnen. Wenn wir wollen, dass genügend Menschen, egal welchen Geschlechts, weiterhin Care- und Sorgearbeit leisten möchten und vor allem können - ganz gleich, ob privat oder beruflich - dann müssen die Bedingungen dafür stimmen. Das reicht, wie schon erwähnt, von guter und bedarfsgerechter Kinderbetreuung über die flexible und leistbare Unterstützung pflegender Angehöriger bis hin zu ordentlichen Rahmenbedingungen für die unterschiedlichen Berufsgruppen in der Kinderbetreuung, Jugendarbeit, Sozialarbeit, Pflege, Gesundheit, und vielem mehr.