In der Bundesarbeitsgemeinschaft Freie Wohlfahrt (BAG) arbeiten seit 1995 die großen Trägerorganisationen Caritas, Diakonie, Hilfswerk, Rotes Kreuz und Volkshilfe zusammen, um gemeinsame sozialpolitische Anliegen zu artikulieren, darunter die Verbesserung der Rahmenbedingungen für eine menschenwürdige Pflege. Von den österreichweit aktuell rund 60.000 Mitarbeiter/innen in der Langzeitpflege arbeitet jede/r Dritte in einer Mitgliedsorganisation der BAG.
Im Herbst 2020 schickt die Bundesregierung das österreichische Pflegesystem in einen umfassenden Reformprozess und hat zahlreiche Expert/innen eingeladen, sich an der Neugestaltung zu beteiligen. Die Personalfrage wird dabei laut BAG über Gedeih und Verderb der Pflegereform entscheiden. „Nur wenn es Österreich gelingt, in den nächsten Jahren deutlich mehr Menschen für den Pflegeberuf zu gewinnen und sie im Beruf zu halten, wird die Zukunft der Pflege zu sichern sein“, sagt Elisabeth Anselm, Geschäftsführerin des Hilfswerk Österreich und aktuell Vorsitzende der BAG.
Pflegebranche hat Zulauf und Mangel zugleich
In der öffentlichen Debatte gilt der Pflegesektor als personelle Mangelzone. Das trifft jedoch nur auf den demografisch bedingten Mehrbedarf zu. Was die Entwicklung der Personalzahlen angeht, ist der Pflegesektor einer der am schnellsten wachsenden in Österreich. Von 2008 bis 2916 stieg der Anteil der unselbstständig Beschäftigten in Pflegeheimen um 25 Prozent (von 16.413 auf 20.478) in der sozialen Betreuung älterer Menschen um 27 Prozent (von 17.140 auf 21.776). Die Branche gehört damit zu jenen mit dem stärksten Zulauf an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Dennoch herrscht bereits jetzt ein Mangel, der sich auf Grund des berechenbaren Mehrbedarfs, welcher aus dem demografischen Wandel und einer kommenden Pensionierungswelle resultiert, massiv zuspitzen wird.
2017 arbeiteten 126.900 Personen im Pflegesektor, davon 59.700 in der Langzeitpflege, das entspricht 100.600 bzw. 44.900 Vollzeitäquivalenten (VZÄ). Für 2030 wurde ein Gesamtbedarf an Pflegekräften von 158.300 Personen (125.300 VZÄ) errechnet. Das bedeutet einen Mehrbedarf von 75.000 Personen. 34.000 (davon 21.000 in der Langzeitpflege) ergeben sich aus der steigenden Lebenserwartung sowie damit einhergehender höherer Morbidität und der Zunahme demenzieller Beeinträchtigungen. Die weiteren 41.500 benötigten Pflegekräfte müssen die in den kommenden Jahren anstehenden Pensionierungen der Babyboomer-Generation abdecken. Die Berechnungen basieren auf von der Gesundheit Österreich GmbH (GÖG) erhobenen Daten.
Der jährliche Pflegepersonalbedarf schwankt bis 2030 je nach Größe der jährlichen Pensionierungswelle zwischen 3.900 und 6.700 Personen. Dafür müssten jährlich zwischen 4.430 und 7.550 Absolvent/innen einer Pflegeausbildung auf den Arbeitsmarkt gelangen. Das vermag die Ausbildungslandschaft in ihrer aktuellen Beschaffenheit nicht abzudecken. „Wir müssen davon ausgehen, dass wir ab 2024 den Personalbedarf nicht mehr mit Absolvent/innen decken können, wenn nicht gravierende Weichenstellungen vorgenommen werden“, nimmt Anselm auf die einschlägige Studie der GÖG Bezug. „Um sich die Dimensionen bewusst zu machen, muss man sich etwa vorstellen, dass ein bis zwei Kinder einer durchschnittlichen österreichischen Schulklasse sich für den Pflegeberuf entscheiden müssten, damit wir den Personalbedarf bis 2030 decken können“, erläutert Anselm.
Ausbildung für Pflegeberufe beherzt neu aufstellen
Für die Caritas ist klar, der Fachkräftebedarf ist eine der zentralsten Aufgaben der Pflegereform, die es zu lösen gilt. Um die Zahl der Absolvent/innen zu steigern, schlägt Caritas Präsident Michael Landau vor: „Der Zugang zu einer Pflegeausbildung muss für alle möglich sein, die diesen wichtigen, zukunftssicheren und wunderbaren Beruf erlernen möchten. Der Schulversuch der fünfjährigen Ausbildung für die Pflegefachassistenz war ein wichtiger erster Schritt und ich wünsche mir, dass wir bald vom Piloten in die Fläche kommen.“
Parallel zu einer Ausweitung der Ausbildungsplätze betont die Caritas die Wichtigkeit von Anreizen für den Einstieg in die Pflegeausbildung: „Wir freuen uns über zahlreiche Bewerberinnen und Bewerber an unseren Schulen. Aber wir wissen auch, dass es Anreize braucht, damit noch mehr Menschen diese wertvolle Aufgabe ergreifen wollen. Aus Sicht der Caritas sollte die Ausbildung, wie schulische Ausbildungen sonst auch, für die Schülerinnen und Schüler kostenlos sein und während der Ausbildung braucht es eine Existenzsicherung für die Auszubildenden. Und das vom Bodensee bis zum Neusiedlersee“, sagt Landau.
Pflege- und Betreuungsberufe als Chance für Umsteiger
Die fortschreitende Digitalisierung, der Niedergang mancher Industriezweige oder Elementarereignisse wie die Corona-Pandemie drängen Menschen aus ihren angestammten Jobs. Der dynamisch wachsende Arbeitsmarkt Pflege und Betreuung kann eine Alternative bieten. „Hier muss aktive Arbeitsmarktpolitik ansetzen und Um- und Wiedereinsteiger/innen den Wechsel in die Pflege und Betreuung auch finanziell ermöglichen“, so Erich Fenninger, Direktor in der Volkshilfe Österreich.
Im Rahmen der Pflegereform fordert Fenninger rasche Maßnahmen, die es Menschen ermöglichen, eine zweite Karriere in der Pflege und Betreuung einzuschlagen. Dazu gehören attraktive Ausbildungs- und Umschulungsangebote, die auch berufsbegleitend zu absolvieren sind, sowie die Übernahme der Kosten für Ausbildung und Lebensunterhalt für die Dauer des Umstieges. Die Umschulungsangebote sowie des Lebens- und Unterhaltskosten der Umsteiger/innen sollten durch Arbeitsstiftungen und/oder Mittel aus dem AMS finanziert werden.
Arbeitszufriedenheit durch Anerkennung von Kompetenzen
„Wollen wir den Fachkräftemangel beheben und engagierte Pflegekräfte solange wie möglich im Beruf halten, dann müssen wir den Pflegeberuf attraktiver machen und den Mitarbeiter/innen Entwicklungsmöglichkeiten bieten. Etwa durch Fachkarrieren in der Langzeitpflege sowie durch die Anerkennung und finanzielle Abgeltung von Zusatzqualifikationen“, sagt Michael Opriesnig, Generalsekretär des Österreichischen Roten Kreuzes.
Es reiche nicht aus, den Pflegekräften in Sonntagsreden zu danken. „Wir müssen Perspektiven geben und Ambitionen zur Weiterentwicklung fördern. Wollen wir zufriedene Pflegebedürftige und Angehörige, dann brauchen wir auch zufriedene Pflegerinnen und Pfleger“, ist Opriesnig überzeugt.
Dazu sei es notwendig, dass Pflegekräfte gemäß ihrer Kompetenzen eigenverantwortlich arbeiten können, sprich: Leistungsqualität vor Leistungsdauer, weg von der Stoppuhr der Leistungsvergütung durch die öffentliche Hand! Außerdem bedürfe es der gesetzlich längst vorgesehenen Anerkennung von Kompetenzen, wie zum Beispiel bei der Weiterverordnung von Medizin- und Pflegeprodukten oder bei medizinischen Leistungen im Rahmen der Hauskrankenpflege. Hier müssten, so Opriesnig, auch die Sozialversicherungsträger in die Pflicht genommen werden.
Faire und attraktive Arbeitsbedingungen für Verbleib im Beruf
Studien zeigen, dass vor allem jüngere Beschäftigte im Pflegesektor unter 25 Jahren nicht vorhaben, den Pflegeberuf bis zur Pension auszuüben. Beschäftigte über 55 Jahren denken hingegen eher nicht daran denken, aus dem Pflegeberuf auszuscheiden, sind jedoch oft aus gesundheitlichen Gründen dazu gezwungen. Pflegekräfte leiden unter Stress durch Zeitdruck, durch Arbeitsverdichtung und die zu hohe Zahl an Klient/innen. Viel Bürokratie und viele Vorgaben schränken ebenso ein wie große Organisationseinheiten. Es bleibt schlicht und ergreifend zu wenig Gestaltungsspielraum, um das zu tun, was die Langzeitpflege zu einer erfüllenden Arbeit macht: Zuwendung und Beziehung, Gespräche und gesellige Aktivitäten.
Ein wesentlicher Hebel, um die Arbeitsbedingungen zu verbessern, sind die Personalschlüssel bzw. Normkostensätze und die entsprechende Refinanzierung durch die öffentliche Hand. Personalschlüssel und Annahmen zu Finanzierungssätzen sind überholt, in jedem Bundesland anders und viel zu knapp kalkuliert. „Wir brauchen eine österreichweit verpflichtende, einheitliche, transparente und evidenzbasierte Berechnungsmethode – unter Einberechnung von Ausfallszeiten wie Urlaub, Krankenstand oder Karenz sowie Aus-, Fort-und Weiterbildungszeit. Diese muss auch Bedarfsanpassungen im Hinblick auf die Bewohnerstruktur oder spezifische Anforderungen der jeweiligen Pflege- und Betreuungskonzepte mitberücksichtigen“, fordert Maria Katharina Moser, Direktorin Diakonie Österreich.
Der zweite Hebel sind die Betreuungsformen und Pflegedienstleistungsangebote. Studien zeigen, dass Mitarbeiter/innen in kleineren Einrichtungen weniger belastet sind als in großen. Dezentrale Wohn- und Betreuungsformen sind auch besser für Menschen mit Pflegebedarf. Größere Gestaltungsmöglichkeiten steigern die Arbeitszufriedenheit von Mitarbeiter/innen. Haben diese mehr Autonomie und Entscheidungskompetenz, können sie besser auf die individuellen Bedürfnisse der Klient/innen reagieren. „Was gut ist für die Menschen, die Pflege brauchen, ist auch gut für die Pflegekräfte und ihre Motivation, im Beruf zu bleiben“, so Moser abschließend.